Was ist Sozialchauvinismus?

In den letzten Jahren ist es zu einer merkwürdigen Uminterpretation des Begriffs “Sozialchauvinismus” gekommen. Daher sei an dieser Stelle kurz darauf hingewiesen, dass mit Sozialchauvinismus ein Chauvinismus im Sinne von kriegstreibenden Nationalismus gemeint war, der von Teilen der Arbeiter_innenbewegung ausging. Lenin bezeichnete an mehreren Stellen Sozialchauvinisten als “Sozialisten in Worten, Chauvinisten in Taten”. Gemünzt war dies auf die meisten führenden Sozialdemokraten, die damals für eine “Vaterlandsverteidigung” eintraten und so – nach Lenin – dem Imperialismus dienten.

Heute wird der Begriff Sozialchauvinismus zum Teil umgekehrt benutzt. Das heißt, es geht nicht mehr um einen Chauvinismus als Bestandteil der sozialen Bewegung, sondern um einen Chauvinismus der Elite gegen soziale Errungenschaften. Der Bestandteil “Sozial” im Begriff “Sozialchauvinismus” wurde von einer Verortung innerhalb der sozialistischen Bewegung zu einer Attributierung des Begriffs “Chauvinismus”. Unter “Chauvinismus” ist dann nicht mehr kriegstreibender Nationalismus zu verstehen, sondern ein Art “Klassismus”, was nun durch das vorangestellte “Sozial” verdeutlicht werden soll.

Warum wird der Begriff Sozialchauvinismus benutzt? Eine einfache Erklärung und eine, die für viele Linke wahrscheinlich auch zutrifft: Das Wort “Sozialchauvinismus” ist in der Linken bekannt und man weiß, dass damit ein elitistischer Sozialabbau im sarrazinischen Sinne gemeint ist.

Komplizierter wird es, wenn hinterfragt wird, warum der Begriff “Klassismus” nicht benutzt wird. Klassismus meint das, was in aktuellen Diskussionen um Sarrazin etc. als “Sozialchauvinismus” bezeichnet wird. Klassismus meint aber noch mehr. Der Begriff “Klassismus” entstand Anfang der 1970er Jahre u.a. auch als eine Krititk von Linken aus der Working Class gegen das Verhalten von gutsituierten Linken. Damals wurde also eine Art Sozialchauvinismus im leninschen Sinne kritisiert, nur nicht auf Außenpolitik bezogen, sondern auf Umgangsweisen innerhalb der Linken. Man könnte hier von “Alltags-Sozialchauvinismus” sprechen.

Der Begriff “Klassismus” wird von einigen Linken abgelehnt, weil er sich angeblich nicht mit der marxschen Klassentheorie vereinbaren ließe. Dass das Unsinn ist, wurde mehrfach nachgewiesen: Mit dem Begriff “Klassismus” können Fragen im Bereich der Reproduktion von Klassen sehr gut benannt werden, außerdem ist es ein materialistischer Begriff, der es erlaubt, Herrschafts- und Machtverhältnisse im Alltag zu benennen. Mit dieser Ablehnung des Begriffs “Klassismus” wird allerdings großzügig darüber hinwegegangen, dass er vorrangig auch eine Kritik innerhalb der Linken benennt. bell hooks benutzt den Begriff Klassismus bzw. Classism in ihrem Buch “Where we stand: Class matters” fast ausschließlich für eine Kritik an den weißen Mittelschichtsfeminismus.

Wenn nun der Begriff “Klassismus” durch den Begriff “Sozialchauvinismus” ersetzt wird, dann wird hierdurch in doppelter Weise eine Kritik in den sozialen Bewegungen erschwert: Alltags-Klassismus innerhalb der Linken wird genauso schwer formulierbar wie die historische Kontextualisierung von sozialchauvinistischer Kriegstreiberei.

6 Kommentare

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  1. sascha313

    Alles Klar! “Wolke sieben” erklärt “Wolke sechs” (und all den anderen proletarischen Dummköpfen), warum man Lenin dahingehend korrigieren muß, daß “Klassismus” (nicht zu verwechseln mit der bekannten kunstgeschichtlichen Epoche von 1770 bis 1840) ein “marxistischer Begriff” sei und daß bell hooks in ihrem Buch „Where we stand: Class matters“ mit ihrer Kritik am weißen Mittelschichtsfeminismus durchaus einen wertvollen Beitrag zur Bereicherung und historischen Kontextualisierung der Sarrazinistischen Herrschaftsideologie darstellt, welche im Bereich der Reproduktion der Klassen eine Kritik der sozialen Bewegungen in doppelter Weise erschwert. So einfach ist das!

    Wenn Ihre Bücher, werter Herr, auch so geschrieben sind wie obiger Text, dann sollte man sie millionenfach drucken lassen und kostenlos unter den Lohnempfängern verteilen. Damit wäre künftig jede Revolution vermeidbar! Prost!

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