Ist die KMK verfassungsfeindlich?

Im Grundgesetz ist festgehalten, dass niemand aufgrund seiner sozialen Herkunft benachteiligt werden dürfe.

Nun wird aber seit Jahrzehnten festgestellt, dass im Bildungsbereich eine Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft stattfindet. Diese Woche belegte die OECD in der sogenannten „PISA für Erwachsene“-Studie die Nachhaltigkeit dieser Bildungsdiskriminierung. Unter den OECD-Staaten sei nur in den USA eine größere Diskriminierung gegeben. Darüber hinaus sei in Deutschland Einkommen, Arbeitsplatzsicherheit, Gesundheit und gesellschaftliche Partizipation enger am Bildungserfolg gekoppelt als in anderen Staaten, das heißt die Diskriminierung multipliziert sich in Deutschland.

Heute legte die Kultusministerkonferenz (KMK) die IQB-Ländervergleichs 2012 in den mathematisch- naturwissenschaftlichen Fächern vor und kommentierte ihn hinsichtlich der sich daraus ergebenden bildungspolitischen Schlussfolgerungen. Dieses Bildungsmonitoring wurde 2006 nach einem Streit von Kultusministern mit der UN und der OECD eingeführt worden. 2007 entzündete sich der Streit um die Frage, ob die PISA-Studie hergebe, dass sich die Situation insbesondere für Schüler und Schülerinnen mit sogenannter ^niedriger^ sozialer Herkunft verbessert habe. Eine kommentierte Vorveröffentlichung behauptete diese Verbesserung, konservative Bildungspolitiker jubelten, doch der internationale Koordinator der PISA-Studie, Andreas Schleicher, widersprach. Es kam zu einem offenen Streit zwischen deutschen Kultusministern und -ministerinnen und der OECD. Einige konservative Kultusminister forderten hingegen den Ausstieg aus PISA und den Rücktritt des internationalen Koordinators. Die OECD stellte sich jedoch hinter ihren Koordinator und sperrte Deutschland für ein Jahr von Vorveröffentlichungen. Ähnliche Kontroversen hatte es auch mit dem UN-Bildungsinspektor, Vernor Munoz, ein Jahr zuvor gegeben. Kulutsminister wollten den UN-Bildungsbericht über das deutsche Bildungssystem „korrigieren“ lassen, da dort eine eklatante Benachteiligung aufgrund der sozialen Herkunft festgestellt und die frühzeitige Selektierung durch das mehrgliedrige Schulsystem kritisiert wurde.

Nun also hat sich die Kultursministerkonferenz ihr eigenes Bildungsmonitoring geschaffen. Zwar gibt es hier keine internationale Beobachter, die – wie der PISA-Koordinator der OECD oder der UN-Bildungsinspektor – das deutsche antiquiert-ständische Bildungssystem kritisieren. Aber dieses Bildungsmonitoring müsste sich schon ziemlich verbiegen, um eine Kopplung des Bildungserfolges von der sozialen Herkunft nicht festzulegen.

„Anhand der Varianzaufklärung wird deutlich, dass in Mathematik und in den Naturwissenschaften bundesweit etwa 13 bis fast 17 Prozent der Unterschiede zwischen den Schülerinnen und Schülern in den erzielten Kompetenzen auf Unterschiede im sozioökonomischen Status der Eltern zurückgeführt werden können. Der sozioökonomische Status spielt also für die Erklärung der Kompetenzunterschiede von Schülerinnen und Schülern in Deutschland nach wie vor eine substanzielle Rolle. […] Bundesweit erreichen Schülerinnen und Schüler aus sozial besser gestellten Familien im Fach Mathematik im Durchschnitt 82 Punkte mehr als Jugendliche aus sozial schwächer gestellten Familien. Dies entspricht einem Leistungsvorsprung von fast drei Schuljahren zugunsten der Schülerinnen und Schüler mit einem hohen Sozialstatus.“ (IQB-Ländervergleich 2012 – Zusammenfassung, S. 19)

Der Bericht weist zudem auf „zuwanderungsbezogene Disparitäten“ hin, die Unterschiede von bis zu zwei Schuljahren feststellen.

Obschon also mit PISA 2000 die KMK 2001 sieben Handlungsfelder beschlossen hatte, von denen der Punkt 4 lautete: „Maßnahmen zur wirksamen Förderung bildungsbenachteiligter Kinder, insbesondere auch der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ ist seither nichts geschehen. Ähnlich wie beim Bologna-Prozess, wo auch eine Soziale Dimension bei den Hochschulreformen beschlossen, aber nicht umgesetzt wurde, findet man auch bei der KMK keine Maßnahmen, die die Bildungsbenachteiligung aufheben könnten. Mit dem Ergebnis der IQB-Studie heute formulierte die KMK weitere „fünf bildungspolitische Schlussfolgerungen“. Zur Bildungsbenachteiligung aufgrund der sozialen Herkunft findet sich explizit gar nichts mehr, lapidar wird nur auf die sieben Handlungsfelder von 2001 verwiesen.

Wenn permanent auf den Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz im Grundgesetz verwiesen wird – in dieser Woche gleich durch zwei Studien – und die KMK diesen Verstoß dennoch nicht als relevant für bildungspolitische Schlussfolgerungen erachtet, dann ist die Frage, in wie fern das Grundgesetzt von der KMK überhaupt noch ernst genommen wird. Da die KMK verantwortlich ist für die Bildungspolitik und die Bildungsbenachteiligung durch diese Politik verschärft wird, stellt sich die Frage, ob die KMK nicht verfassungsfeindlich handelt.

13 Kommentare

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  1. vogel2044

    Naja, iss ja alles richtig, was Du sagst, bis auf … naja, bis auf … die OECD lügt! 😉

  2. Merc

    Ist es nicht ein kleiner Unterschied bezüglich der Semantik dieser beiden Sätze:

    „Ist die KMK verfassungsfeindlich?“

    und

    „stellt sich die Frage, ob die KMK nicht verfassungsfeindlich handelt.“

    Über Letzteres lässt sich vortrefflich debattieren. Ersteres klingt derbe nach Boulevard und Eyecatcher…

  3. sewenz

    Hallo Herr Kemper,

    zweierlei:

    1. Wieso setzen Sie — anders als in den meisten deutschen und internationalen Publikationen zum Thema üblich — Ungleichheit mit Diskriminierung gleich? Das scheint mir aus analytischer Perspektive sehr unglücklich — ich würde viel mehr wissen wollen, was der Beitrag von Diskriminierung zur herrschenden Ungleichheit im deutschen Bildungssystem ist. Tatsächlich wissen wir aus jahrzehntelanger Forschung, dass es in Deutschland eine hohe Bildungsungleichheit gibt. Inwieweit und in welchem Ausmaß Diskriminierung im Bildungswesen gegen verschiedene soziale und/oder ethnische Gruppen vorliegt, scheint mir dagegen weiterhin eher umstritten.

    2. Wissen Sie wirklich nicht, dass sich der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungsergebnissen von der ersten PISA-Studie in 2000 bis zur letztveröffentlichten in 2009 statistisch signifikant und substantiell verringert hat? Oder wollen Sie das Ihren LeserInnen vorenthalten? Und ja: es sind die Kinder von Eltern der EGP-Klassen III, V, VI und VII, die signifikant und teils erheblich besser abschneiden als neun Jahre vorher. Das ist übrigens alles hier nachlesbar: http://pisa.dipf.de/de/de/pisa-2009/ergebnisberichte/PISA_2009_Bilanz_nach_einem_Jahrzehnt.pdf

    Freundliche Grüße
    Sebastian Wenz

    • Andreas Kemper

      Hallo Sebastian Wenz,

      zum ersten Punkt – Differenzierung von sozialer Ungleichheit und Diskriminierung – gibt doch bereits die von Ihnen verlinkte Studie Auskunft:

      „Der im internationalen Vergleich frühe Wechsel von der Grundschule in die Sekundarstufe stellt eine weitere Quelle zur Verstärkung von Bildungsungleichheiten dar (Maaz, Baumert & Trautwein, 2009). Forschungen zu den Bildungsübergängen belegen, dass soziale Ungleichheiten der Bildungsbeteiligung durch ein sozial selektives Beratungs- und Empfehlungsverhalten von Lehrkräften und durch ein sozialschichtabhängiges Entscheidungsverhalten der Eltern verstärkt werden können (Ditton, Krüsken & Schauenberg, 2005). Mit der Aufteilung der Schülerinnen und Schüler in unterschiedliche Schulformen sind außerdem institutionelle Effekte verbunden, etwa durch bildungsgangspezifische Curricula oder durch Kompositionseffekte durch differentielle Lern- und
      Entwicklungsmilieus (Baumert, Stanat & Watermann, 2006). Damit sind mögliche Ansatzpunkte für bildungspolitische Maßnahmen genannt, die dazu beitragen können, die sozialen Disparitäten des Kompetenzerwerbs und der Bildungsbeteiligung in Deutschland langfristig und dauerhaft zu reduzieren. Inwieweit dies gelingt, wird sich unter anderem in den zukünftigen Erhebungen von PISA zeigen.“

      Es gibt zahlreiche Studien, die die Ungleichheiten auf diskriminierende soziale Selektionen zurückführen, insbesondere die IGLU-Studien: Schüler*innen mit sogenannter ^niedriger^ sozialer Herkunft werden bei gleichen Leistungsergebenissen, gleichen kognitiven Fähigkeiten und gleicher Aufmerksamkeit und Mitarbeit im Unterricht schlechter bewertet und hinsichtlich der Schulübergangsformen benachteiligt.

      Zum zweiten Punkt ist zunächst festzuhalten, dass die von Ihnen verlinkte Studie auf der Basis von sozialökonomischen Indikatoren arbeitet, nicht jedoch mit den ESCS-Indikatoren, mit denen PISA eigentlich arbeitet. Diese Differenzierung ist wichtig, da sie bereits vor Jahren zum Konflikt zwischen deutschen Bildungspolitikern und der OECD führten. Die ESCS-Indikatoren können die Effekte der sozialen Herkunft besser benennen, weil kulturelle Faktoren besser abgefragt werden. Diese kulturellen Faktoren sind so relevant, dass das Hochschulinformationssystem seine Indikatoren vollständig von der sozialen Herkunft auf die Bildungsherkunft umstellte. In dieser Radikalität finde ich das problematisch, da auch sozioökonomische Faktoren eine Rolle spielen und nicht nur die Bildungserfolge der Eltern. Dennoch macht dies deutlich, dass die EGP-Klassifizierungen, mit denen das deutsche PISA-Konsortium arbeitet und auf die auch in Ihrer verlinkten Studie beruhen, eine geringere Aussagekraft zuzumessen ist.

      Was in der Studie zudem nicht berücksichtigt wurde sind die Phasen, die chronologisch vor und hinter der Situation von 15jährigen liegen. Zwar hat die Zahl der Abiturient*innen in Deutschland zugenommen, und das betrifft vor allem Schüler*innen mit sogenannter ^niedriger^ sozialer Herkunft, aber das im Bologna-Prozess umgebaute Hochschulsystem wirkt derart abschreckend auf diese Schüler*innen, dass sie kaum ein Hochschulstudium aufnehmen. Und der Umbau der Familienpolitik, die sich von sozialkompensatorischen Elementen befreite und sich nun als „nachhaltige Familienpolitik“, also als „forstwirtschaftliche“ Familienpolitik versteht, wird voraussichtlich weitere negative Effekte auf Bildungserfolge von Kindern aus finanziell armen Familien haben, schließlich erhalte geringverdienende und arbeitslose Familien kein Erziehungsgeld mehr, während gutverdienende Familien jetzt mit einem Elterngeld von bis zu 1800 Euro monatlich vom Staat subventioniert werden. Zu nennen ist hier auch das Versagen der Kultusministerien bei der Verabschiedung der Schuldenbremse, die diese nicht verhinderten obwohl doch abzusehen ist, dass diese Schuldenbremse sich massiv bei den Bildungsetats der Länder bemerkbar machen werden. Die beiden genannten Entwicklungen rollen ja erst noch auf uns zu, was voraussichtlich in höheren Bildungsdisparitäten bemerkbar machen wird.

      • sewenz

        Herr Kemper,

        – Ich habe immer noch nicht verstanden, was Sie unter Diskriminierung verstehen und wie Sie das von Ungleichheit unterscheiden.
        – Dass es Forschung gibt, die die frühe Selektion im deutschen Bildungssystem mit der relativ hohen Bildungsungleichheit in Verbindung bringen, ist mir bekannt (interessanterweise zitieren Sie die vermutlich besten Studien dazu von Wößmann et al. gar nicht). Mit den deutschen PISA-E-Daten habe ich dazu auch gearbeitet und finde ähnliches für die AV „besuchte Schulform“ (statt Kompetenzen). Was das aber genau mit Diskriminierung zu tun haben soll, verstehe ich nicht — weil ich nicht weiß, was Sie hier unter Diskriminierung verstehen.
        – Ditton et al. (2005), die Sie zitieren, aber auch viele weitere/ähnliche Beiträge zeigen z.B. ja ganz gut, dass ein Großteil der Differenzen in den Noten und/oder Übergangsempfehlungen zwischen Kindern unterschiedlicher sozialer Herkunft verschwindet, wenn man für relevante Drittvariablen (z.B. Kompetenzen und Migrationshintergrund) kontrolliert.
        – Ansonsten gebe ich Ihnen Recht: es gibt inzwischen viele Studien, die einigermaßen überzeugende Evidenz liefern, dass es im deutschen Bildungssystem Diskriminierung gegen Kinder aufgrund ihrer sozialen Herkunft gibt. Hier haben wir keinen großen Dissens, auch wenn ich die vorliegenden Studien sicher vorsichtiger interpretieren würde als Sie und auch glaube, dass es in diesem Bereich noch viel zu tun gibt.
        – Zu EGP vs ESCS: zunächst muss man m.E. festhalten, dass es sich hier um sehr verschiedene Ansätze der Messung der sozialen Herkunft handelt. EGP ist ein theoretisch hergeleitetes Klassenschema (von dem ich noch nie gehört habe, dass es ein „sozialökonomischer Indikator“ sei), ESCS ist ein metrischer Index, der vor allem hohe Varianzaufklärung zum Ziel hat (und schon näher an dem liegt, was man „socioeconomic indicator“ nennen würde). Die meisten Soziologen, die etwas auf Theorie geben (da gehöre ich dazu), ziehen i.d.R. theoretisch begründete Messungen vor. Welche der beiden Messungen die soziale Herkunft der Kinder „besser“ im Sinne von valider erfasst, werden wir hier wohl nicht klären können. Die LeserInnen interessiert vielleicht noch, dass die EGP-Klassen ein Maß sind, dass in der internationalen Forschung zur sozialen Mobilität und Stratifikation seit Jahrzehnten eine sehr prominente Rolle spielt, womit ich nicht sagen will, dass man nicht weitere Maße heranziehen kann und sollte — auch da sind wir vermutlich ähnlicher Meinung.
        – Zu guter Letzt und vielleicht am wichtigsten: Sie schreiben, dass im internationalen PISA-Bericht der ESCS zum Einsatz kommt (was stimmt) und es klingt, als würden Sie sagen wollen (Sie tun es allerdings interessanterweise nicht), dass Analysen mit dem ESCS belegten, dass die soziale Ungleichheit im deutschen Bildungssystem unverändert hoch geblieben wäre. Auch das ist falsch. Wie Sie dem Bericht „PISA 2009 Results: Learning Trends“ der OECD entnehmen können (S.78f. und insbesondere Tabelle V.4.3 auf S.163), ist Deutschland eines von 6 OECD-Ländern, in denen der soziale Gradient (Regressionsgrade des ESCS) in 2009 signifikant geringer ausgefallen ist. Dass er immer noch signifikant über dem OECD-Durchschnitt liegt, stimmt natürlich auch.

        Mein Fazit, dass ich als Rat formulieren möchte, wenn Sie erlauben: Sie sollten sowohl mit Begriffen als auch statistischen Fakten sorgsamer umgehen — Ihrer Sache (Sie empfinden sich ja wohl in erster Linie als Aktivist und nicht als Wissenschaftler, oder?) dienen Sie weder mit der unklaren oder inflationären Verwendung von Begriffen noch mit falschen Behauptungen zu statistischen Zusammenhängen. Sollten Sie sich auch oder gar insbesondere als Wissenschaftler empfinden, wiegen die beiden Punkte umso schwerer.

      • Andreas Kemper

        Hallo Sewenz,

        Ihr „Rat“ ist nicht hilfreich. Wenn Sie als Statistiker in der Ungleichheitsforschung arbeiten, dann nutzen Sie Ihre Position um im Sinne des Grundgesetzes tätig zu werden, nämlich die Diskriminierung zu bekämpfen. Ich wüsste nicht, was Sie dazu legitimieren sollte, mir einen Rat zu erteilen. Es mag sein, dass Ihnen als wissenschaftlicher Mitarbeiter Fachbegriffe vertraut sind (so wie ein Handwerker von „Schraubendreher“ statt „Schraubenzieher“ spricht und damit verdeutlicht, dass er vom Fach ist), aber um einen Rat für bildungspolitische Arbeit erteilen zu können, bedarf es mehr als in einem akademischen Feld scholastisch abgekapselt zu sitzen und Infektionen durch „Aktivismus“ abzuwehren. Sie müssen, um solche Ratschläge erteilen zu können, im akademischen Feld und im bildungspolitischen Feld über entsprechende Kompetenzen verfügen.

        Würden Sie auch über eine bildungspolitische Praxis verfügen, dann wären Sie auf meine Argumentation eingegangen. Soweit ich weiß, wurde der ESCS-Index eingeführt, um Faktoren deutlicher sichtbar zu machen, die nach Bourdieu als „kulturelles Kapital“ bezeichnet werden:

        „Die soziale Herkunft von Schülern wird normalerweise mithilfe der sozioökonomischen Stellung ihrer Familien bestimmt, das heißt mithilfe von Daten zur relativen Position ihrer Eltern in einer sozialen Hierarchie, deren Ordnungsprinzipien in der Verfügung über finanzielle Mittel, Macht oder Prestige bestehen. Da Informationen über die Einkommensverhältnisse, die Macht und die soziale Anerkennung von Individuen nicht so leicht zu bekommen sind, wird ihre sozioökonomische Stellung in aller Regel über ihre Berufstätigkeit erfasst, die Hinweise auf jeden der drei Aspekte ihrer Stellung in der sozialen Hierarchie geben kann. Daten zum Beruf und zur beruflichen Stellung des Vaters oder beider Eltern waren auch in der Bildungsforschung immer die wichtigsten Kriterien, mit deren Hilfe die soziale Herkunft von Schülern bestimmt wurde. Erst seit einigen Jahren werden – im Anschluss an die Arbeiten von Bourdieu (1972, 1983) und Coleman (1987, 1988, 1990, 1996) – zuweilen auch andere Aspekte der sozialen Herkunft berücksichtigt, und zwar das kulturelle und soziale Kapital der Familien, aus denen die Schüler kommen. Sie sollen in PISA zusätzlich zum sozioökonomischen Status der Herkunftsfamilien genauer untersucht werden.“ http://www.mpib-berlin.mpg.de/Pisa/Kontextmerkmale.pdf , S.33f.

        Ein Vergleich von ISEI, EGP und ESCS findet sich bei Timo Ehmko und Nina Jude:
        „Die soziale Herkunft kann durch verschiedene Indikatoren beschrieben werden:
        • den International Socio-Economic Index of Occupational Status (ISEI) (Ganzeboom, de Graaf & Treiman, 1992),
        • die Erikson-Goldthorpe-Portocarero-Klassen (EGP) (Erikson, Goldthorpe & Portocarero, 1979; Erikson & Goldthorpe, 2002) sowie durch
        • den Index des ökonomischen, sozialen und kulturellen Status (ESCS) (OECD, 2007b).
        Während der internationale sozioökonomische Index und die EGP-Klassen weitgehend auf der Berufsklassifikation der Eltern basieren, werden beim ESCS auch Angaben zu kulturellen Ressourcen im Elternhaus berücksichtigt.“ http://www.pedocs.de/volltexte/2011/3537/pdf/Ehmko_Timo_Jude_Nina_Soziale_Herkunft_D_A.pdf, S. 233

        Es geht also darum, die „kulturellen Ressourcen“ im Elternhaus besser erfassen zu können.

        Wären Sie auf den Konfliktzwischen der OECD und dem nationalen PISA-Konsortium von 2007 konkret eingegangen, dann hätten Sie mich auf einen Fehler in meinem Kommentar hinweisen können. Es ging damals nicht um die Indikatoren EGP und ESCS, sondern um die Indikatoren ISEI und ESCS. http://www.heise.de/tp/artikel/26/26754/1.html. Die Kernaussage ist davon jedoch nicht berührt. Relevant ist, dass ESCS das soziale und kulturelle Kapital besser berücksichtigt – zumindest ist dies der Sinn von ESCS, sonst hätte man gleich bei ISEI und EGP bleiben können.

        Das Thema des Artikels ist allerdings ein ganz anderes. Es geht um die Frage, ob die Kultusminister*innenkonferenz gegen die Verfassung verstößt, weil sie nichts gegen die Bildungsbenachteiligung unternimmt. Wie stehen Sie als Bildungssoziologe dazu? Es müsste Sie doch auch wütend machen, dass Ihre Forschung nicht ernst genommen wird.

  4. Irene (@irene_muc)

    “Maßnahmen zur wirksamen Förderung bildungsbenachteiligter Kinder, insbesondere auch der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund” ist seither nichts geschehen.

    Immerhin hat sich die Position durchgesetzt, dass Kenntnisse der Unterrichtssprache keine Zwangsgermanisierung bedeuten. Für manche war das ein großer Schritt.

  5. André

    „Das Thema des Artikels ist allerdings ein ganz anderes. Es geht um die Frage, ob die Kultusminister*innenkonferenz gegen die Verfassung verstößt, weil sie nichts gegen die Bildungsbenachteiligung unternimmt.“ Zitat Ende.

    Die Urfragen sollte sein: WARUM werden die Einen bei der Bildung benachteiligt und die Anderen scheinbar nicht!?
    UND warum funktionierte es die letzten 30 Jahre auf passablem Niveau und jetzt anscheinend nicht mehr!?

    • Andreas Kemper

      Wie kommst du darauf, dass jetzt die Benachteiligung nicht mehr „auf passablem Niveau“ stattfindet. Beim Schulübergang von der Primar- zur Sekundarstufe wurde von IGLU keine Besserung festgestellt. Es machen zwar mehr Arbeiter*innenkinder Abitur, beim Übergang von der Schule zur ^Hochschule^ entscheiden sich allerdings weniger Abiturient*innen aus Arbeiter*innenfamilien für ein Studium. Während sich diese Effekte weitgehend ausgleichen, wurde mit dem Bolognaprozess eine neue Hürde im Studium eingeführt, nämlich der Übergang vom Bachelor- zum Master-Studium. Damit haben wir eine neue Bildungsschwelle, an der studierende Arbeiter*innenkinder überproportional ausgesiebt werden. Es hat sich also nichts verbessert, im Gegenteil.

  6. André

    Hello again.
    Ich denke, das meine zweite Frage von gestern Abend etwas falsch verstanden wurde.
    Mit dem passablen Niveau bezog ich mich darauf, das es die letzten 30 Jahre mit der „Klassenfreien“ Bildung ja relativ gut funktionierte und [i]nicht[/i] darauf, das die Benachteiligung seit 30 Jahren erfolgreich vollzogen wird.

  7. Angelika H.

    „…wurde mit dem Bolognaprozess eine neue Hürde im Studium eingeführt, nämlich der Übergang vom Bachelor- zum Master-Studium. Damit haben wir eine neue Bildungsschwelle, an der studierende Arbeiter*innenkinder überproportional ausgesiebt werden. Es hat sich also nichts verbessert, im Gegenteil.“ Tja, wer hat denn den weltweit anerkannten und geschätzten deutschen Diplomingenieur abgeschafft? War es nicht maßgeblich Rot/Grün? Konnten die Funktionäre der SPD nicht ahnen, was da auf ihre Klientel: Arbeiter und deren Kinder zukam? Aber nein: international wollte man sein. So- und nun haben wir den Salat. Schräg wurden z.B. die Verantwortlichen der Uni Dresden angeschaut, als diese auch weiterhin auf den Diplomingenieur bestanden. Akademiker in Dt. wiesen auf den Unfug der Einführung des Bachelor/Master hin. Gewählte „Vertreter des Volkes“ entschieden anders……

  8. TH

    Hallo Herr Kemper.
    Da auf Ihrer wikipedia-Seite keine Kommentare zugelassen sind, hier+kurz: Bei der dortigen Lösch“debatte“ fiel mir auf, daß alle, Sie auch, sich krampfhaft bemühten, Ihre 3 Bücher als „anerkannte“ Verlagsveröff. darzustellen, ein Wikipedianist meinte sogar: Verlage nähmen Geld in die Hand v o r Veröff., was was sog. „anerkannte“ (Sozial) Wissenschaftler in sog., „anerkannten“ (sozial) wissenschaftl. Verlagen wie etwa VS oder Duncker & Humblot und Dt. betrifft GRUNDFALSCH ist. Die nehmen nur Geld inne Hand nachdem sie v o r h e r reichlich STAATSKNETE abkassiert und/oder wenigstens zugesagt bekommen haben, m.a.W.: anerkannte Sozialwissenschaftler in Dt. zeichehn sich im Feld sozialwiss. Publizistik v.a. dadurch aus, daß diese STAATSKNETE MOBILISIEREN können.
    Dieses ganzdeutsche (Tabu) Thema – den KORRUPTEN PUBLIKATIONSPARASITISMUS wollte ich und bewußt mal auf Ihrer Seite ansprechen.
    Gruß, TH

    • Andreas Kemper

      Hä? Ich weiß nicht, worauf Sie hinaus wollen. Ich habe keine Bücher bei VS oder Duncker&Humblot veröffentlicht. Und die vier Bücher, die ich publiziert habe, sind ohne Staatsknete produziert worden. Zudem sind auf meiner Wikipedia-Benutzerdiskussionsseite Kommentare zugelassen.

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