Gesellschaftliches Trauma

Gesellschaftliches Traumaist die gesamtgesellschaftliche Wirkung der Traumata der Individuen. In diesem Artikel werden erstmals Überlegungen zum Einfluss von Traumatisierungen auf die Gesellschaft erörtert.

Bislang wurden nur die Traumata von Individuen untersucht. Es dauerte über sechzig Jahre von den Anfängen der Psychoanalyse bis zu den Eichmann-Prozessen, bis überhaupt diese individuellen Traumata anerkannt wurden. Bereits sehr früh – noch in den 1960er Jahren – wurde deutlich, dass sich Traumata intergenerationell, also zwischen den Generationen, vererben können. Zugleich können Traumata Partnerschaften extrem belasten. Traumata sind also nicht nur in ihrer Entstehungsgeschichte (Gewalterfahrungen, Unfälle,… ) soziale Phänomene, sondern auch in ihren Auswirkungen. Zudem können sie sich intergenerationell „fortpflanzen“.

Bleiben aber Traumata auf den engen Bereich von Partnerschaft und Familie beschränkt oder können Traumata auch die gesellschaftliche Entwicklung bestimmen? Zunächst möchte ich hier auf die Entwicklung der Trauma-Konzeption in der Psychoanalyse eingehen. Es wird sich zeigen, dass Trauma auf der individuellen Ebene erst seit kurzer Zeit anerkannt werden.

Die fünf Stadien psychoanalytischer Trauma-Konzeption

Innerhalb der psychoanalytischen Traumakonzeption macht Martin Bergmann fünf aufeinander folgende Stadien aus. Zunächst entwickelten Breuer und Freud im 19. Jahrhundert anhand der Hysterie ein Konzept der „traumatischen Neurose“.

„Selbst jenen, die nur rudimentär über die Psychoanalyse Bescheid wissen, ist vermutlich bekannt, dass diese Disziplin aus einer Debatte über das Wesen des Traumas entstand. Als Breuer und Freud 1895 ihre Studien über Hysterie veröffentlichten, enthielt das Werk bereits im Kern die Vorstellung, dass die Ursache der Hysterie in einem Trauma, genauer: einem sexuellen Trauma liege.“(Bergmann, 1996, S.12) Sehr bald schon verabschiedete sich Freud jedoch von der Auffassung, dass dem Trauma tatsächliche Übergriffe vorhergingen. Vielmehr ging er nun davon aus, dass das Unbewusste seiner PatientInnen nicht zwischen Wünschen und Tatsachen unterscheiden könne und die Erinnerungen eher entstellte, verbotene Wünsche seien.

„Nach seinem Abschied von der Verführungstheorie gelangte Freud zu einer neuen, geringeren Einschätzung der materiellen Realität im Gegensatz zur „psychischen Realität“, wie er es nannte, die er nun in den Mittelpunkt rückte. Der Begriff der „psychischen Realität“ erscheint erstmals in der Traumdeutung (1900). Sie entsteht, wenn sich ein äußeres Ereignis, meist von geringerer Bedeutung, mit einer unbewussten Phantasie kombiniert. […] In dieser Phase rückte die Psychoanalyse davon ab, den Begriff des Traumas in den Mittelpunkt zu stellen. Statt dessen entdeckte Freud die (früh)kindliche Sexualität und den Ödipuskomplex als Kernstück der Neurose. Paradoxerweise hat die Psychoanalyse gerade dadurch, daß sie die Beschäftigung mit dem Trauma zugunsten der „psychischen Realität“ zurückdrängte, die Grundlage für ein besseres Verständnis der Traumen gelegt.“(Bergmann, 1996, S.13) Zwischen 1914 und 1920, unter dem eindruck der Folgen des Ersten Weltkrieges, gab es wieder eine stärkere Hinwendung zur Traumaforschung. Die Kriegsneurosen warfen Fragen auf, die die Analytiker, die als Heerespsychiater arbeiteten, nicht so leicht zu lösen vermochten. Zunächst läßt sich festhalten, dass auch Freud sich wieder stärker der Traumaforschung zuwandte. Bergmann bezeichnet dies als die dritte Phase der Traumakonzeption. Die vierte Phase beginnt mit der Veröffentlichung „Jenseits des Lustprinzips“ (1920), in der Freud eine dualistische Triebtheorie entwickelt. Die Libido befinde sich demnach in einem ständigen Kampf gegen den Todestrieb.

„InJenseits des Lustprinzipsbezeichnet Freud eine Erregung durch Außenreize als „traumatisch“, wenn sie stark genug ist, den „Reizschutz“ zu durchbrechen, den jeder Mensch gegen solche exzessiven Reize errichtet, und äußert die Annahme, dass Reizschutz für den lebenden Organismus eine beinahe wichtigere Aufgabe sei als die Reizaufnahme. Der Reizschutz, so Freud, sie mit einem eigenen „Energievorrat“ ausgestattet. Freud beschränkt jedoch, im Gegensatz zu Analytikern nach ihm, den Begriff Trauma nicht auf einen Reiz, der von außen eindringt. InHemmung, Symptom und Angst(1926) betonte er, das Wesentliche an der traumatischen Situation sei, dass es sich um eine Erfahrung der Hilflosigkeit des Ich angesichts einer unerträglichen Erregungsanhäufung handle, gleichgültig, ob äußeren oder inneren Ursprungs. Er begriff nun das Ich als die seelische Instanz, die den Menschen vor dem Trauma schützt. Das Ich erfüllt diese Aufgabe, indem es ein Angstsignal gibt und so der Entstehung traumatischer Ängste vorbeugt.“ (Bergmann, 1996, S. 15)

Die Erfahrungen mit Überlebenden des Holocausts führte schließlich zur fünften Revision der Trauma-Konzeption in der Psychoanalyse. Jedoch dauerte es mehr als 15 Jahre, bis PsychoanalytikerInnen dazu in der lage waren, die Ursachen für die extremtraumatischen Folgeerscheinungen ausschließlich im Terror der nationalsozialistischen Verfolgung sehen zu können und nicht etwa in einer „Veranlagung“. Durch den Eichmann-Prozess 1961 in Israel wandelte sich allmählich die einstellung gegenüber den Überlebenden. In Deutschland waren es vor allem die „Wiedergutmachungsprozesse“, durch die psychoanalytische Gutachter mit den Überlebenden zusammentrafen. Und es waren in erster Linie us-amerikanische Gutachter, die entsetzt waren über die Gefühlskälte und Stumpfheit ihrer deutschen Kollegen, die den Überlebenden einen Krankheitswert absprachen oder ihre „schwache Natur“ als Ursache für ihr Leiden sahen. Erst während des 25. Psychoanalytischen Kongresses im Jahr 1967 wurde überhaupt Traumatisierung in einem größeren Rahmen zum Thema gemacht. Problematisiert wurde in den 1960ern auch die transgenerationale Weitergabe von Traumata und damit auch gesellschaftliche Aspekte.

Gesellschaftliches Trauma und die Metapher „Nationales Trauma“

Um eine Verwechslung vorzubeugen, möchte ich zunächst festhalten, dass

Gesellschaftliches Traumanicht mit dem zu verwechseln ist, was oftmals Nationales Trauma genannt wird.

Mit den Terroranschlägen vom 11. September in New York wurde davon gesprochen, dass New York oder dass die Vereinigten Staaten traumatisiert seien. Eine Stadt oder ein Staat sind jedoch keine Individuen und können folglich auch nicht traumatisiert werden. Es handelte sich um eine unglückliche Metapher. Traumatisiert waren diejenigen, die direkt mit der Katastrophe konfrontiert waren oder Freunde, Freundinnen und Verwandte verloren, nicht aber die Stadt oder der Staat. Das millionenfache Entsetzen hatte jedoch viele Auswirkungen. Die Nation war geschockt. Dieser Begriff ist ebenfalls problematisch, ist aber treffend, wenn darunter eine unmittelbare Handlungsunfähigkeit aufgrund eines unerwarteten Ereignisses zu verstehen ist. Die Börse brach zusammen, die Leute gingen tagelang nicht zur Arbeit, die Fernsehsender änderten ihr Programm, die Regierung beschloss ein Anti-Terror-Programm und begann Kriege gegen Afghanistan und den Irak.

Wenn also in dem Beispiel oben nicht davon geredet werden kann, dass eine Stadt wie New York durch einen entsetzlichen terroristischen Angriff als traumatisiert bezeichnet werden kann, so gilt dies hingegen schon für Landstriche, in denen die meisten Menschen traumatisiert sind, wie beispielsweise dem Osten Kongos [1] in Folge des Genozids in Ruanda. Die durch Kriege, Genozide und Naturkatastrophen hervorgerufene Massentraumatisierungen können reale gesellschaftliche Konsequenzen haben und sind als reale in der Gesellschaft vorhandene Traumata zu unterscheiden von der Metapher des Nationalen Traumas.

Soziale Auswirkungen von Traumatisierungen

Weitergabe der Traumatisierungen an nachfolgende Generationen

Bereits in den 1960er Jahren erkannten Psychologen, dass die Kinder von Überlebenden der nationalsozialistischen Verfolgung ähnliche Symptome aufwiesen wie ihre extremtraumatisierten Eltern. Als erstes berichteten die kanadischen Psychiater V. Rakoff, J.J. Sigal und N.B. Epstein 1966 davon, dass überproportional viele Nachkommen von Überlebenden die psychiatrische Hilfe suchten. [2] Ilse Grubrich-Simitis ging davon aus, dass die Extremtraumatisierungen, wie sie Überlebende der nationalsozialistischen Verfolgung erlitten, bei ihren ihren Kindern zu „kumulativen Traumata“ führten („kumulative Traumatisierung der zweiten Generation“). Sie mutmaßte zudem, dass diese kumulativen Traumatisierungen nicht nur an eine Generation weitergegeben werden, sondern über mehrere Generationen: „Es ist nicht wahrscheinlich, daß diese Weitervermittlung des Traumas, wo sie einmal in Gang gekommen ist, in der zweiten Generation haltmacht, sofern von den Kindern von Überlebenden nicht ein die eigene kumulative Traumatisierung ausbalancierende Partnerwahl getroffen oder therapeutische Hilfe in anspruch genommen wird.“ [3] Den Begriff „kumulatives Trauma“ hat M.M.R Khan 1963 in die Diskussion um Traumatisierungen der zweiten Generation eingebracht, um deutlich zu machen, dass die Weitergabe des Traumas nicht über grobe Fehler wie beispielsweise Vernachlässigung geschieht, sondern „um äußerlich unauffällige Einfühlungsversäumnisse, die erst durch ihre Kumulation über einen längeren Entwicklungszeitraum traumatisch wirken.“ [4]

Inzwischen wurde die transgenerative Weitergabe von Traumatisierungen bereits in der vierten Generation festgestellt. [5]

Dominanz von Traumata in Partnerschaften

Partner und Partnerinnen von Menschen, die traumatisierende Gewalt erlitten, haben oftmals auch unter dieser Traumatisierung zu leiden. Inzwischen gibt es Selbsthilfegruppen von Partnern und Partnerinnen traumatisierter Menschen. Ein Beispiel ist die große Nachfrage des Ratgebers „Verbündete“ [6] von Laura Davis. Die Autorin, die selber sexualisierte Gewalt erlitt, hatte nicht nur den Ratgeber „Trotz allem“ [7] herausgegeben, sondern auch sehr einfühlsam einen Ratgeber für Partner und Partnerinnen, von denen sie sich wünschte, dass sie als Verbündete in der Aufarbeitung der Traumatisierung agieren.

Wenn aber bereits Partner und Partnerinnen von Überlebenden traumatisierender Erfahrungen in einer „gesunden“ Umgebung so sehr beeinträchtigt werden, dass sie therapeutischer Unterstützung bedürfen, wie sehr wirken sich dann Traumatisierungen aus, wenn in dem Umfeld die Hälfte der Menschen oder mehr schwersttraumatisiert sind und keine therapeutische Hilfe gegeben ist (wie beispielsweise in Katastrophengebieten, Flüchtlingslagern oder Kriegsgebieten)? Es ist nicht davon auszugehen, dass Traumatisierungen „in“ der betroffenen Person verbleiben. Sie haben gesellschaftliche Auswirkungen, die fatal sein können, wenn man das Beispiel traumatisierter Kindersoldaten [8] heranzieht.

Traumatische Theorie: Paradigma Niccolo Machiavelli

Aber nicht nur im sozialen Umfeld können sich Traumatisierungen fortpflanzen, sondern sie finden auch ihren Niederschlag in Schriften. Schreiben kann der Verarbeitung von traumatischen Erfahrungen dienen. Wenn diese Schriften jedoch veröffentlicht werden, ohne dass dem Autoren oder den Lesern klar wird, dass diese Schrift eine Trauma-Verarbeitung gewesen ist, so kann dies anti-emanzipatorisch wirken. Ich nenne solche Schriften und theoretische Entwürfe „traumatische Theorie“. Es ist keine Theorie über Traumatisierungen, sondern eine von Traumatisierung geprägte Theorie, die die psychische Begleiterscheinungen einer Traumatisierung rationalisiert, ohne diese selbst zu hinterfragen.

Niccolo Machiavelli 1469-1528

Ein paradigmatisches Beispiel ist die Schrift „Il Principe“ [9] von Niccolo Machiavelli. In dem Artikel zu Niccolo Machiavelli habe ich dargestellt, wie es sich erklären lässt, dass der Republikaner dieses antirepublikanische Büchlein verfassen konnte. Merkwürdigerweise wurde bislang in der Rezeption von „Il Principe“ immer davon abstrahiert, dass Machiavelli dieses Werk schwersttraumatisiert mit durch die von mehrfacher Folter verkrüppelten Hände rasend schnell herunterschrieb. Sein Schreiben war eine Form von Trauma-Aufarbeitung. Gleichzeitig empfahl seine Schrift – ganz im Sinne der Identifikation mit dem Aggressor – die Folter gegenüber Abtrünnigen und legitimierte somit das, was ihm an Grausamkeit widerfuhr.

Machiavelli ist hier symptomatisch. Durchkämmen wir die Philosophiegeschichte, so werden wir sicher auf weitere philosophische Traktate stoßen, die im Bann der Traumatisierung geschrieben und entsprechend beurteilt werden müssen. Machiavellis Schrift „Il Principe“ ist jedoch mehr als ein Nebenprodukt einer Trauma-Verarbeitung. Es ist kein Zufall, dass marxistische Theoretiker im 20. Jahrhundert dann Machiavelli für sich entdeckten, als sie in der Gefangenschaft waren (Gramsci, Althusser und Negri). Machiavelli schildert die Logik eines vom Trauma durchzogenen Universums. Die traumatisierende Kraft, dasjenige, an dem Machiavelli sich identifizierend hält, um nicht unterzugehen, ist die Virtù .

Schockstrategie und Gesellschaftliches Trauma

Was ist die Schockstrategie?

Die „Schockstrategie“ ist ein Begriff, mit dem die Globalisierungskritikerin Naomi Klein [10] ein Muster der kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung beschreibt. Dieses nutze einen gesellschaftlichen Ausnahmezustand, der in der Lähmung des normalen gesellschaftlichen Handelns bestehe, um mit einem „Wild-West-Kapitalismus“ in sehr schneller Zeit Besitzverhältnisse zu ändern und Vermögen zu verschieben. Diese Lähmung, bzw. der Schock, besteht aus drei Elementen. Zum einen ist die Infrastruktur zerstört oder beschädigt: Häuser, Straßen, Brücken, Verkehrsmittel, Kommunikationsmittel; zudem sind die sozialen Institutionen gestört: die Verwaltung, die Medien und die gewachsenen sozialen Strukturen; als drittes sind sehr viele Menschen real traumatisiert als Individuen, was sich allerdings durch die Katastrophe summiert und potenziert, da die Katastrophensituation gerade dann, wenn sie länger anhält, traumatisierend bleibt und die Menschen sich gegenseitig mit ihren Traumata konfrontieren. Eine Gegenwehr ist so nur schwer aufrecht zu erhalten.

Ungleichzeitigkeit durch Gesellschaftliches Trauma

Traumata entstehen, wenn die Realität sich psychisch nicht verarbeiten lässt. Eine Traumatisierung ist eine Schutzfunktion, die die Psyche vor einer unerträglichen Realität schützt und in einen sicheren Container verschließt. Diese situativ nicht zu ertragende Konflikt-Realität kann zu einem späteren Zeitpunkt aufgearbeitet werden, in dem die Person sich wieder in die Vergangenheit zurückbegibt. Was geschieht aber, wenn sehr viele Individuen einer Gesellschaft traumatisiert werden durch Unterdrückung und Krieg? Kann dies zu Verdrängungsprozessen der unerträglichen Realtität führen, die sich gesellschaftlich niederschlägt in irrationalen Annahmen und Verhaltensweisen?

– der Artikel wird fortgesetzt –

Siehe auch

Literatur

  • Laura Davis: Verbündete. Ein Handbuch für Partnerinnen und Partner sexuell mißbrauchter Frauen und Männer, Orlanda Frauenbuchverlag September 199

  • Jeffrey Gettleman (New York Times):Rape Epidemic Raises Trauma of Congo War (Veröffentlicht: 7. Oktober 2007

  • Ilse Grubrich-Simitis (1979): Extremtraumatisierung als kumulatives Trauma. Psychoanalytische Studien über seelische Nachwirkungen der Konzentrationslagerhaft bei Überlebenden und ihren Kindern, in: Hans-Martin Lohmann: Psychoanalyse und Nationalsozialismus. Beiträge zur Bearbeitung eines unbewältigten Traumas, Frankfurt a.M. September 1994

  • Judith S. Kestenberg: Vorwort zur deutschen Ausgabe, in: Martin S. Bergmann, Milton E. Jucovy, Judith S. Kestenberg: Kinder der Opfer – Kinder der Täter. Psychoanalyse und Holocaust, Frankfurt a. M. April 1998

  • Niccolo Machiavelli: Der Fürst / Il Principe, Reclam-Universalbibliothek 1985