Leben wir in einer Klassengesellschaft?

Zu diesem Thema werde ich am 25. Mai einen Vortrag halten. Bei der Vorbereitung fühle ich mich positiv irritiert, da ich nicht weiß, wo ich zuerst anfangen soll. Ich komme kaum hinterher, die mit den Schlagzeilen der Medien gelieferten Belege für die Existenz der Klassengesellschaft aufzuarbeiten.

Wie waren die Zahlen letzte Woche? Geringverdiener zahlen in Deutschland am meisten Steuern? Wer präsentierte dieses Ergebnis? Die OECD? Und gab es da in der letzten Woche nicht noch eine Studie, derzufolge die Einkommensschere sich noch weiter öffnet? Heute präsentierte der Deutsche Partitätische Wohlfahrtsverband den “Armutsatlas”.
Und was waren dass letzte Woche für klassistische Äußerungen von diesem Sarrazin, der nun in den Vorstand der Bundesbank gehievt worden ist? Wie kommt es, dass er sich in dem Stern-Interview schwerpunktmäßig überhaupt mit Hart-IV-EmpfängerInnen beschäftigt? Hat er als Bundesbank-Vorstand in den Zeiten der heftigsten Finanz- und Wirtschaftskrise seit Bestehen der BRD nicht andere Probleme? Oder gehört Arbeitslosen-Bashing zum Kernbereich eines Vorstandes der Bundesbank? Vielleicht wäre es der richtige Ansatz, mit der Frage, ob wir in einer Klassengesellschaft leben, beim Vorstand der Bundesbank zu beginnen.

Sarrazin und die Bundesbank

Der Vorstand der Bundesbank ist 2009 von acht auf sechs Mitglieder reduziert worden. Herr Sarrazin ist neu hinzugekommen. Vorgeschlagen werden die Mitglieder je zur Hälfte von der Bundesregierung und dem Bundesrat. Ernannt werden sie vom Bundespräsidenten.
Zu den Aufgaben der Bundesbank, der “Bank der Banken”, heißt es:

Oberstes Ziel aller Tätigkeiten der Bundesbank ist: Die Stabilität des allgemeinen Preisniveaus und des Finanzsystems zu sichern. Hierfür sind gründliche Analysen, eine langfristige Orientierung und Neutralität gegenüber Einzelinteressen unabdingbar. In ihrer Stabilitätspolitik ist die Bundesbank auch auf die Unterstützung durch die Wirtschafts-, Finanz- und Lohnpolitik angewiesen. Selbstdarstellung

“Neutralität gegenüber Einzelinteressen”? Im Ranking beim Arbeitslosen-Bashing hat sich Dr. Thilo Sarrazin noch vor Clement und Mißfelder an die Spitze gesetzt. Mit seinen jüngsten Äußerungen lieferte er gegen die bisherigen Spielregeln nicht nur einen markigen Spruch auf Stammtischniveau, sondern einen Rundumschlag. Was genau äußerte Sarrazin am 14.05. im Stern-Interview?

Er äußerte sich zu finanzpolitischen Fragen in drei Bereichen und jedesmal ging es ihm um eine weitere Einschränkung des Sozialsystems:
1. Rente. Die „übermäßige“ Erhöhung um 2,41 Prozent ab 1.Juli sei eine „völlig unsinnige Maßnahme“. Er empfiehlt stattdessen Eigenvorsorge, man könne ja schließlich für seine Rente sparen.
2. Finanzielle Hilfe für bedürftige Eltern Seine These: Hartz-IV-EmpfängerInnen versuchten ihren finanziellen Lebensstandard dadurch zu verbessern, dass sie mehr Kinder in die Welt setzten. “Die große Frage ist: Wie kann ich es schaffen, dass nur diejenigen Kinder bekommen, die damit fertig werden”. Manche Frauen würden zwei, drei oder mehr Kinder in die Welt setzen, obwohl sie “nicht das Umfeld” oder “die persönlichen Eigenschaften” hätten, “um die Erziehung zu bewältigen”. Deswegen müsse das Sozialsystem so geändert werden, “dass man nicht durch Kinder seinen Lebensstandard verbessern kann, was heute der Fall ist”.
3. Energiekostenbeihilfe für ALG-2-EmpfängerInnen Zitat Sarrazin: “Hartz-IV-Empfänger sind erstens mehr zu Hause; zweitens haben sie es gerne warm, und drittens regulieren viele die Temperatur mit dem Fenster.” Mit dieser Zuschreibung wiederholte er seine Forderung an die finanzschwachen Menschen in Deutschland vom Juli 2008: sie sollten gefälligst nicht die Heizung anstellen, sondern Pullover tragen.

Sarrazins Angriffe sind im doppelten Sinn diskriminierend. Arbeitslosen und Armen wird a) ein moralisch verwerfliches Verhalten unterstellt, um ihnen b) noch weiter die finanziellen Ressourcen zur Partizipation in der Gesellschaft zu entziehen. Dies unterscheidet Sarrazin und Co. von Menschen, die einfach nur Vorurteile gegen Arbeitslose und Arme haben.

Zwar äußerte der Präsident der Bundesbank sich unmittelbar zu dem Statement, dass dieses nicht die Position der Bundesbank wiedergebe. Wir wissen damit aber noch nicht, was die anderen Vorstandsmitglieder der Bundesbank über Rentner, Arbeitslose und finanzschwache Eltern denken. Herr Sarazzin ist nunmal seit zwei Wochen Vorstand in der Bundesbank. Seine Positionen waren mehr als deutlich, als er von Brandenburg und Berlin vorgeschlagen und vom Bundespräsidenten ernannt wurde. Die Positionen Sarrazins und sein Auftreten waren bei seiner Ernennung bekannt. Die Distanzierung vom Präsidenten der Bundesbank, Herrn Weber, bleibt zudem vage. Bislang war es Usus der Vorstandsmitglieder, dass sie sich mit politischen Stellungnahmen zurückhielten, damit sie nicht in den Verdacht gerieten, nicht neutral oder gar interessengeleitet zu sein. Der diskrete Charme der Bundesbank – Thilo Sarrazin hat ihn innerhalb seiner ersten zwei Wochen durchbrochen. Zudem sorgte Thilo Sarrazin mit seinem Statement für Unmut, man solle Bankberatern nicht trauen. Natürlich muss ein Präsident der Bundesbank, der “Bank der Banken”, zu dieser Äußerung eines Bundesbankvorstandes Stellung beziehen. Wir wissen daher trotz der Distanzierung nicht, ob der Bundesbank-Vorstand als Ganzes nicht doch die sozialpolitischen Positionen eines Sarrazin teilt.

Sollte Sarrazin nicht entlassen werden, wie es nicht nur Verdi unmittelbar nach den klassistischen Äußerungen Sarrazins forderte, dann wissen wir eben, dass seine Positionen für die Bundesbank tragbar sind. Wir müssen dann konstatieren, dass aus im Vorstand der Bundesbank klassenspezifische Interessen verfolgt werden, ein Klassenkampf gegen Menschen mit geringen finanziellen Ressourcen geführt wird. Abgesehen von Oswald Metzger, der nach seinen Verbalattacken gegen Arbeitslose von der Partei Die Grünen zur CDU wechselte, musste in Deutschland kein Politiker mit irgendwelchen Konsequenzen oder gar Sanktionen rechnen, wenn er sich diskriminierend gegenüber Arme oder Arbeitslose äußerte. Diskriminierung von Armen ist nunmal nicht verboten in Deutschland.

Klassistische Äußerungen vom Bundesbank-Vorstand – ein Beleg für die Klassengesellschaft?

Nein, kein Beleg. Ein Hinweis. Aber wieviele Hinweise braucht es?
Letzte Woche teilte die OECD mit, dass in Deutschland Geringverdiener überproportional mit Steuern und Abgaben belastet werden. Nur in Belgien werden Geringverdiener noch mehr belastet. Hinzu komme, dass ab einer bestimmten Einkommenshöhe die Steuerbelastung wieder sinke, statt zuzunehmen. „Anders als die progressive Einkommenssteuer vermuten lässt, sinkt in Deutschland die Belastung der Arbeitseinkommen ab einem bestimmten Punkt wieder“, schreibt die OECD. „So fallen in Deutschland bei einem Single mit einem Jahresgehalt von rund 63.000 Euro mit 53,7 Prozent die höchsten Abzüge durch Steuern und Sozialbeiträge an. Bei 110.000 Euro Jahresgehalt müssen dagegen nur noch 50 Prozent der Arbeitskosten an Sozialkassen und Staat abgeführt werden. Die Steuer- und Sozialabgabenquote liegt damit wieder auf dem Niveau eines Arbeitnehmers mit 36.500 Euro Jahresgehalt“, stellt die OECD fest.
Heute veröffentlichete der Paritätische Wohlfahrtsverband den “Armutsatlas”. Die Klassengesellschaft bildet sich inzwischen regional ab. Dies geschieht nicht zufällig, sondern ist ebenso Bestandteil einer Demographisierung der bisherigen Politik wie die Familienpolitik zunehmend sozialeugenisch demographisiert wird (wie es sich auch wieder in Sarrazins Äußerung zeigt). Eva Barlösius und Claudia Neu kritisierten bereits in einem Aufsatz in der Prokla 146, dass der bisherige geographische Gleichheitsgrundsatz (dass prinzipiell im Bayerischen Wald und in Castrop-Rauxel die gleiche ärztliche Versorgung, die gleiche Infrastruktur zur Verfügung zu stehen habe) mit demographischen Argumenten aufgeweicht werde (Eva Barlösius, Claudia Neu: “‘Gelichwertigkeit – Ade?’ Die Demographisierung und Peripherisierung entlegener ländlicher Räume”, in: Prokla 146, März 2007, S. 77-93).

Nun gut, soziologisch müsste der Begriff “Klassengesellschaft” genauer auseinandergenommen werden. Wie definiert sich Klasse gegenüber Schicht? Und vorausgesetzt, es gebe in Deutschland Klassen, die einer vernünftigen Definition gegenüber standhalten, prägen sie dann unsere Gesellschaft so sehr, dass es erlaubt sei, von der “Klassengesellschaft” zu reden? Ja, dem ist so, wobei ein Blog nicht das richtige Organ ist, den Beweis zu führen.

Doch neben der soziologischen Sprache gibt es auch ein emotionales Bedürfnis, Ungerechtigkeiten artiklulieren zu können. Dieser Sprache wurden wir durch eine jahrzehntelange Denunziation des Klassenbegriffs weitgehend beraubt. Es ist an der Zeit, den Klassenbegriff wieder zu vergesellschaften. Benennen wir also das, wofür der Bundesbank-Vorstand Sarrazin bekannt ist mit dem Begriff, der am klarsten trifft: interessensgeleiteter Klassenkampf von oben.

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