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AfD, Entartung, VWL

Wenn Bernd Lucke von Entartung, Degeneration oder Bodensatz spricht, dann ist er nicht unbedingt ein Nazi.

Sondern er bedient sich einer Sprache, die nicht vom vergesellschaftetem Menschen ausgeht, sondern von einer bestimmten Nationalökonomie, einer bestimmten Volkswirtschaftslehre, also von der Nation oder dem Volk, in dem der Mensch dehumanisiert wird und nur noch als Humankapital interessant ist. In dieser Abstraktion vom konkreten Menschen wird dann der Mensch zur Chimäre, zum Homo Ökonomikus, einer bürgerlichen Abstraktion, in der sich vor allem weiße, deutsche gut situierte Männer mit ihren nichtreflektierten Privilegien und Deklassierungsängsten wiederfinden. Es wird von der Qualität der Bevölkerung ausgegangen und von dort geschlussfolgert auf die ^höhere^ und ^mindere^ Qualität der Kinder, gemessen durch die „Investitionsbereitschaft“ der Eltern in ihre Kinder. Ein biologistisches Pendant findet diese Denkweise in der Bevölkerungsbiologie, dessen braunen Aufguss uns vor kurzem noch Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ präsentierte. Allein der Titel ist verdächtig, auch hier ist der Ausgangspunkt nicht der Mensch und seine Grundrechte, sondern der Staat als handelndes Subjekt. Der Mensch ist in dieser Denkweise nur noch Erscheinungsform und Vererbungsfaktor einer Population mit einem mehr oder weniger wertvollem Genpool. Dieses Denken wird in der Wirtschaftskrise stärker, weil die Deklassierungsängste im Bürgertum zunehmen. Sie finden ihren Niederschlag nicht nur an Nazisprache erinnernde Formulierungen („Transferbabys“ (Gunnar Heinsohn), „Warum soll ich für sie zahlen?“ (Konrad Adam)), sondern auch in der gesetzlich zementierten Umstellung der Familienpolitik, die sich nicht mehr an Grundrechten orientiert (sozialkompensatorisches Erziehungsgeld), sondern an Fragen der Bevölkerungsqualität (einkommensprivilegierendes Elterngeld). Familienpolitik als Bevölkerungspolitik ist schlecht kaschiert, wenn sie sich mit forstwirtschaftlichem Vokabular selbst kennzeichnet (nachhaltige Familienpolitik).

Lucke ist daher nicht unbedingt ein Nazi, wenn er von „Entartung“, „Degenerationserscheinung“ oder „Bodensatz“ spricht. Sondern er geht nur einfach nicht vom konkreten vergesellschafteten Menschen und seinen Grundrechten aus, sondern von der halluzinierten „Art“, die „entarten“, „degenerieren“ kann, also Ausschuss, Bodensatz (und so weiter, neoliberale VWLer mögen das Vokabular ergänzen) erzeugt.

Diese Denkweise allerdings war sehr wohl eine Grundlage für den Nationalsozialismus, welcher nämlich die Nationalökonomie nur auf die Spitze trieb und dem auf Konrad Adams Frage „Warum soll ich für sie zahlen?“ schon damals die Antwort T4 und Zwangsterilisierung einfiel. Man kann natürlich auch die Variante des Volkswirtschaftlers Malthus wählen, es gibt da viele Möglichkeiten „das Problem der Unterschicht“ „auswachsen“ (Sarrazin) zu lassen. Nur weil man von „Entartung“ spricht, ist man eben noch kein Nazi, man ist aber einer dehumanisierenden Denkweise verpflichtet. Und diese Denkweise hat entsprechend auch Probleme mit der Demokratie. Gibt man „Degeneration der Demokratie“ als Suchbegriff bei Google ein, landet man bei einem Artikel der Blauen Narzisse, einer Internetplattform der Neuen Rechten, die ihre Probleme mit der Demokratie in aller Deutlichkeit zeigen. Gibt man die Formulierung „Degeneration der Demokratie“ bei der Bücher-Suche von Google ein, wird hingegen ein Text von Friedrich August von Hayek angezeigt, der als Ausweg der „Degeneration der Demokratie“ ein Zweikammer-System empfiehlt. Die gesetzgebende Kammer soll für 15 Jahre gewählt werden – „15 Jahre“ entspricht im Strafvollzug die Formulierung „lebenslänglich“. Es geht der AfD um eine Reform der politischen Entscheidungsstruktur und zwar zentral, noch vor der Kritik am Euro, wie Alexander Dilger, der Landesvorsitzende der AfD gestern noch einmal explizit auf seiner Homepage mitteilte.

Entschuldigt werden soll Bernd Luckes Rede von Entartung unter anderem mit einem Verweis auf Helmut Schmidts Aussage: „Man kann aus Deutschland mit immerhin einer tausendjährigen Geschichte seit Otto I. nicht nachträglich einen Schmelztiegel machen. Weder aus Frankreich noch aus England, noch aus Deutschland dürfen sie Einwanderungsländer machen. Das ertragen Gesellschaften nicht. Dann entartet die Gesellschaft!“ Ob denn Helmut Schmidt auch ein Nazi sei fragt bspw. der Account der Facebook-Seite Anonymous (will aber gar keine Antwort, sondern löscht sofort kritische Beiträge und sperrt die Kritiker*innen aus). Auch diese Aussage ist nicht unbedingt nationalsozialistisch, sie entstammt aber der Ideologie der Rassenhygiene. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass einige Rassenhygieniker ein sozialdemokratisches Parteibuch hatten, wenngleich die Rassenhygiene im Nationalliberalismus – der gerade in der AfD neu aufersteht – adäquater vertreten war und eine Variante entwickelte, die dann im Nationalsozialismus zur Praxis überging. Gerade die fehlende Aufarbeitung des Kapitels Rassenhygiene in der Geschichte der Sozialdemokratie trägt ja mit dazu bei, dass der Rassist Thilo Sarrazin von Sozialdemokraten wie Helmut Schmidt und Klaus von Dohnanyi verteidigt wird oder dass von der Sozialdemokratin Renate Schmidt die Idee der Familienpolitik als Forstwirtschaft (Nachhaltigkeit) entwickelt wurde. Keine Frage.

Aber Lucke und Adam sind Parteigründer und Luckes Statement mit den Vokabeln „Ertüchtigung“ und „Entartung der Demokratie“ wurde zur Erklärung des Überraschungserfolges der ersten Wahlteilnahme der Partei vor zahlreichen Fernsehkameras geäußert. Und sie wurde mit einer biologistischen Ungeziefer-Metapher Konrad Adams in der extrem rechten „Jungen Freiheit“ verteidigt: „Die Antifa ernährt sich vom Deutschen Reich wie die Fliegen vom Kot“. Diese Vokabeln entstammen einer nationalliberalen Ideologie, die die AfD prägt. Sie ist nicht unbedingt nationalsozialistisch, sie ist an sich dehumanisierend und fruchtbar für weitergehendere Dehumanisierungen.

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