Der Begriff Classism (Klassismus) scheint der mit Abstand älteste der Antidiskriminierungsbegriffe zu sein. Er wurde bereits erstmals in einem Buch Ende der 1830er Jahre in Großbritannien verwendet. In Deutschland hingegen konnte der Begriff erst anderthalb Jahrhunderte später nachgewiesen werden. Dies ist auch ein Versäumnis des Marxismus, denn Friedrich Engels hätte diesen Begriff bereits vor Ort zur Kenntnis nehmen können.
Samuel Bamford
Der Begriff ‘Classism’ findet sich in dem Buch “Passage in a Life of a Radical” (1839-41) des Funktionärs der Arbeiter*innenbewegung von Manchester Samuel Bamford. Im 31. Kapitel schrieb Bamford vom verächtlichen Gefühl des Klassismus, dem Fluch Englands und der Engländer und auch der Engländerinnen:
I narrate the above as a specimen of the intercourse and confidence which existed among us at York. The same really contemptible feeling of classism, the curse of England and Englishmen, and of Englishwomen also, existed in too great a degree amongst the witnesses. There were “the broad cloth” and “the narrow cloth” ones, the rich and the poor; and the former seldom sought opportunities for intercommunication with the latter, but rather shunned them. This “pride that licks the dust”—for it is nothing else—has begot a counteraction as wrong as itself. It has filled the working classes with a fierce contempt and hatred of every one wearing a decent coat. This latter is being as mad as the other is being mean. The proper course for those who feel and contemn class distinction, is, first of all, to respect themselves; next, to invite a respectful equality by unoffending manners; and thirdly, to assert their right position in society by withholding the smallest deference to mere assumption. This would be quite sufficient, without rudeness or noise, to restore the natural balance of society.
Samuel Bamford: Passages in the Life of a Radical, Kapitel 31, 1839-41 URL: https://minorvictorianwriters.org.uk/bamford/c_radical_(9).htm
Samuel Bamford war Weber und Lagerarbeiter in Manchester in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es handelt sich um das Manchester, welches das Wort “Manchesterkapitalismus” geprägt hat, also die Form von Gesellschaftsordnung, die Thomas Piketty als “Eigentumsgesellschaft” bezeichnete. Eine vom Kapitalismus geprägte Gesellschaft, in der es weder allgemeines Wahlrecht, noch Arbeitsrechte, noch allgemeine Schulbildung, noch Verbot von Kinderarbeit, noch Sozialversicherung, noch Arbeitslosenversicherung gab. Dies alles wurde erst nach und nach von der Arbeiter*innenbewegung, von Menschen wie Samuel Bamford, erkämpft.
Bamford führte 1819 eine Gruppe von ca. 1.000 Arbeiter*innen zum St. Peters Field, einem Platz in Manchester. Dort versammelten sich 60.000 bis 100.000 Arbeiter*innen, die für Parlamentsreformen, einen eigenen Abgeordneten und gegen die Korn-Gesetzgebung protestierten. Dieser friedliche Protest wurde brutal von der lokalen Staatsgewalt angegriffen, die Kavallerie hieb mit Säbeln auf die Arbeiter*innen ein und trampelte Hunderte mit ihren Pferden nieder. Mindestens 15 Arbeiter*innen wurde durch diesen staatlichen Angriff im Auftrag der herrschenden Klasse ermordet.
Samuel Bamford wurde neben dem wohlhabenden Henry Hunt und anderen Radikalen der Prozess gemacht. Hunt wurde zu 30 Monaten, Bamford zu einem Jahr Gefängnis verurteilt.
Die Szene aus dem Buch von Bamford, in der der Begriff ‘Classism’ vorkommt, schildert das klassistische Verhalten von Henry Hunt in der Zeit, als der Prozess gegen Bamford und Hunt stattfand. Eine Zeugin, die einen längeren Weg zurückgelegt hatte, um im Prozess für Hunt und Bamford auszusagen, wollte vor ihrer Abreise Hunt gerne die Hand schütteln und sich bei ihm bedanken. Bamford sagte ihr, dass er das ermöglichen wolle und suchte mit der Frau zunächst das Anwesen von Hunt und von dort die Gastwirtschaft auf, in der sich Hunt mit Freunden befand. Obwohl es ersichtlich war, dass Hunt zugegen war, ließ er sich durch einen Diener mehrfach verleugnen. Bamford musste mit der Zeugin, die am nächsten Tag wieder die Stadt verließ, den Ort mit dieser Demütigung, die er als Form von Klassismus empfand, verlassen.
A female witness from Middleton, a married woman, gave very important evidence in a most impressive manner, and was to return home the following morning. Before going she wished to see Mr. Hunt, in order to have the honour of saying she had shaken hands with the great man. I offered to introduce her, and we went to Hunt’s apartments, but he was not there, and we were referred to a tavern, the “Black Swan,” I think, in Coney Street. We found there that Hunt, Bryant, and several others were upstairs, and I sent in my name, and after standing in the bar a short time the waiter said, “Mr Hunt could not be seen, he was engaged.” I thought there must be some mistake, and requested the man to give my compliments to Mr. Hunt, and say I should be glad to see him for a minute. The man did so, and came down again with the same result, I was ashamed and offended at receiving such a slight; but, determined that he should not have any ground to plead a misunderstanding, I desired the waiter to go up once more, and say a lady who was going into Lancashire wished to bid him good-bye. The servant very obligingly went up again and returned as before, “Mr. Hunt could not be seen.” The next morning I took my seat at a distance from him in the court, and it was not until repeated overtures on his part, and many fervent expressions of regret, that I resumed conversation with him. But I could scarcely have justified myself if I had suffered any personal offence to alienate me from him during the trial. I considered the cause too great, too holy, to suffer injury in the least by any circumstance affecting one so humble as myself. I was, in fact, too simple-minded, too sincere, and too generous for the situation in which I was placed; and it was not until multiplied acts of deception and ingratitude had been practised upon me, that I learned (if I have yet done so) to value mankind according to their real worth. I narrate the above as a specimen of the intercourse and confidence which existed among us at York. The same really contemptible feeling of classism, the curse of England and Englishmen, and of Englishwomen also, existed in too great a degree amongst the witnesses.
Samuel Bamford: Passages in the Life of a Radical, 1839-41, Kapitel 31, URL: https://minorvictorianwriters.org.uk/bamford/c_radical_(9).htm
Es ist unwahrscheinlich, dass Bamford sich diesen Begriff ‘Classism’ ausgedacht hat. Ich gehe davon aus, dass der Begriff im Arbeiter*innenmilieu von Manchester in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kursierte, dass der Begriff allerdings kaum von denen verwendet wurde, die in der Lage waren, Bücher und Artikel zu schreiben. Wer publizieren konnte, gehörte in der Regel nicht zu den Arbeiter*innen, Bamford war da eine Ausnahme. Der Begriff ‘Classism’ wandte sich u.a., wie in diesem Fall, gegen Reiche, die auf Seiten der Arbeiter*innen kämpften, aber dennoch Klassenunterschiede im persönlichen Alltag bestehen ließen. Vielleicht erklärt dies auch, warum Friedrich Engels den Begriff ‘Classism’ in seiner Studie ‘Die Lage der arbeitenden Klasse in England’ nicht erwähnte.
Friedrich Engels
Mir ist nicht bekannt, dass Marx oder Engels irgendwo den Begriff ‘Classism’ oder ‘Klassismus’ benutzten, obwohl sie über die Klassengesellschaft schrieben.
Engels war wohlhabend und ähnelte damit Henry Hunt. Der zwanzigjährige Engels reiste 1842 nach Manchester, um sich dort in der Textilfabrik Ermen&Engels seines Vaters mit Arbeit von Fabrikanten vertraut zu machen. Er lernte dort die irische Baumwollspinnerin Mary Burns kennen und begann eine Beziehung mit ihr. Wahrscheinlich stammt viel von dem Wissen über die Lage der Arbeiter*innenklasse in England von Mary Burns.
Trotz seiner Beziehung mit Mary Burns waren die Schilderungen zur “keltischen Physigonomie” der irischen Arbeiter im Vergleich zur “sächsischen” der Engländer wenig schmeichelhaft, sondern rassistisch: “überall, wo ein Bezirk sich durch besondern Schmutz und besondern Verfall auszeichnet, kann man darauf rechnen, vorzugsweise diese keltischen Gesichter anzutreffen, die man auf den ersten Blick von den sächsischen Physiognomien der Eingebornen unterscheidet” – tatsächlich bezog sich Engels in dem Kapitel direkt auf die rassistischen Einstufungen von Thomas Carlyle und distanzierte sich nur halbherzig von dessen “übertriebene und einseitige Verwerfung des irischen Nationalcharakters”. Im Gegensatz zur Bezugnahhme auf Thomas Carlyle, dem Sohn eines wohlhabenden schottischen Pächters, findet sich keine Erwähnung des Manchester-Arbeiters Samuel Bamford. Dies verwundert, da Edward P. Thompson in seinem Werk “The Making of the Englisch Workingclass” schrieb, dass Bamfords “Passages in the Life of a Radical” unverzichtbare Lektüre (“essential reading”) sei. Bamford sei laut Thompson “the greatest chronicler of 19th century radicalism”.
Engels betrachtete trotz seiner Nahaufnahme in Manchester die Arbeiter*innenklasse sehr formalistisch, es ging ihm darum, ihre klassische Form herauszuarbeiten, ihre Klassizität zu benennen.
“Die proletarischen Zustände existieren aber in ihrer klassischen Form, in ihrer Vollendung nur im britischen Reich, namentlich im eigentlichen England […] Für Deutschland insbesondere hat die Darstellung der klassischen Proletariatszustände des britischen Reichs – und namentlich im gegenwärtigen Augenblick – große Bedeutung. […] Und wenn auch die proletarischen Zustände Deutschlands nicht zu der Klassizität ausgebildet sind wie die englischen, so haben wir doch im Grunde dieselbe soziale Ordnung, die über kurz oder lang auf dieselbe Spitze getrieben werden muß, welche sie jenseits der Nordsee bereits erlangt hat – falls nicht beizeiten die Einsicht der Nation Maßregeln zustande bringt, die dem ganzen sozialen System eine neue Basis geben.”
Friedrich Engels: Vorwort zur: Die Lage der arbeitenden Klasse in England, in: Karl Marx – Friedrich Engels – Werke, Band 2, S. 225 – 506, Dietz Verlag, Berlin/DDR 1972, S.232f.
Wenn die Arbeiter*innenklasse ihre Reinform, ihre Klassizität, erreicht habe – und dies sah er nach den Unruhen von 1843, als sich die Interessen der ‘Chartisten’ von denen der liberalen Fabrikbesitzer trennten – müsste es unmittelbar zur Revolution kommen, die Engels auf die zweite Hälfte der 1850er Jahre datierte.
Die unglaubliche Häufigkeit dieser Arbeitseinstellungen beweist es am besten, wieweit der soziale Krieg schon über England hereingebrochen ist. Es vergeht keine Woche, ja fast kein Tag, wo nicht hier oder dort ein Strike vorkommt – bald wegen Lohnverkürzung, bald wegen verweigerter Lohnerhöhung, bald wegen Beschäftigung von Knobsticks, bald wegen verweigerter Abstellung von Mißbräuchen oder schlechten Einrichtungen, bald wegen neuer Maschinerie, bald aus hundert andern Ursachen. Diese Strikes sind allerdings erst Vorpostenscharmützel, zuweilen auch bedeutendere Gefechte; sie entscheiden nichts, aber sie sind der sicherste Beweis, daß die entscheidende Schlacht zwischen Proletariat und Bourgeoisie herannaht. […]
Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England, in: Karl Marx – Friedrich Engels – Werke, Band 2, S. 225 – 506, Dietz Verlag, Berlin/DDR 1972, S.441, S. 504f.
Aber bis zur dann folgenden Krisis, die nach der Analogie der bisherigen 1852 oder 1853 eintreten müßte, durch die Abschaffung der Korngesetze jedoch verzögert wie durch andre Umstände, auswärtige Konkurrenz etc., beschleunigt werden kann, bis zu dieser Krisis wird es das englische Volk wahrlich überdrüssig sein, zum Vorteil der Kapitalisten sich ausbeuten zu lassen und, wenn die Kapitalisten seiner nicht mehr bedürfen, zu verhungern. […] Das sind alles Schlüsse, die mit der größten Bestimmtheit gefolgert werden können, Schlüsse, deren Voraussetzungen unbestreitbare Tatsachen, einerseits der geschichtlichen Entwicklung, andrerseits der menschlichen Natur sind. Das Prophezeien ist nirgends so leicht als gerade in England, weil hier alles so klar und scharf in der Gesellschaft entwickelt ist. Die Revolution muß kommen, es ist jetzt schon zu spät, um eine friedliche Losung der Sache herbeizuführen
“Klassizität” + “Klassismus”
Engels irrte sich. Es kam bis heute zu keiner Revolution in England. Im Gegenteil. Vielleicht lag Engels richtig in seiner Einschätzung der geschichtlichen Entwicklung, nicht jedoch in der der “menschlichen Natur”. Dieses Bild war bei ihm verzerrt. Sehr viel realistischer schätzte Samuel Bamford die Entwicklung ein. Bis zum Peterloo-Massaker war Bamford noch in seiner politischen Strategie ein Radikaler. Die Brutalität, mit der die friedliche Demonstration niedergeschlagen wurde, machte ihn zu einer Reformer, der vor allem auf Arbeiter*innenbildung setzte. Martin Hewitt arbeitete in seinem Aufsatz “Radicalism and the vitorian working class: The case of Samuel Bamford” 1991 heraus, dass Bamford trotz seiner Positionierung gegen den Chartismus und seinen Kollaborationen mit Vertretern des Kapitals seine Ziele einer klassenlosen Gesellschaft nie aus den Augen verlor. Bamford fehlte die marxistische Analyse. Engels aber hatte auf ‘das falsche Pferd gesetzt’, als er sich auf Thomas Carlyle statt auf Samuel Bamford bezog. Es wäre viel gewonnen gewesen, wenn Engels sich nicht mit dem ‘Gods Trick’ (Donna Haraway) zum objektiven Betrachter gemacht hätte, in dem er sich und seine eigene Herkunft aus dem Spiel nahm, sondern wenn er ‘streng objektiv’ (Sandra Harding) sich selber aufgrund der Herkunft auf rassistische, sexistische und klassistische Befangenheiten überprüft hätte.
Es geht nicht darum, Engels und Bamfords gegeneinander auszuspielen. Aber ein objektiverer, materialistischer Blick hätte Engels Analyse gut getan. So aber war auch Engels Lage-Analyse der arbeitenden Klasse von England vom Klassismus ‘verflucht’.