Deklassierung und Amoklauf

Die intelligenteren Beiträge zum jüngsten Amoklauf stellen die Anerkennungsfrage in der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft (Freerk Huisken) bzw. in der Marktgesellschaft (Wilhelm Heitmeyer) in den Mittelpunkt. Aber reicht es zur Erklärung des Amoklaufes aus, auf einen Anerkennungsmangel zu verweisen?

Looser
Natürlich ist dieser Ansatz richtiger als der Hinweis auf Computerspiele. Der Verweis darauf, dass wir vom Kapitalismus zum Konkurrenzdenken gezwungen werden und dass die Marktwirtschaft inzwischen zu einer Marktgesellschaft mutiert ist, in der Menschen immer stärker ihre Mitmenschen nach ökonomischen Verwertungsmerkmalen bewerten, ist sehr wichtig. Ich hatte wenige Tage vor dem Amoklauf von Winnenden ein interessantes Gespräch mit einer Frau, die nach ihrem Studium jahrelang HartzIV bekam und entsprechend sensibilisiert seit kurzem an einer Schule arbeitet.
Sie war entsetzt darüber, wie über HartzIV-Empfänger gesprochen wurde und in dem Zusammenhang fiel mir auf, dass ich von 13jährigen extrem häufig das Wort “Looser” als Abwertungsbegriff höre. Als ich vor zwanzig, dreißig Jahren zur Schule ging, war es das Schlimmste, als “schwul” bezeichnet zu werden, “du Spasti” war ebenfalls ein Schimpfwort, die Begriffe spiegelten eine latente Behindertenfeindlichkeit, Sexismus und Homophobie. Wörter wie “Looser” oder “Versager” gehörten nicht zu unserem Wortschatz. Es gab auch Markenklamotten, aber die Adidas-Turnschuhe, die Wrangler und den Parka konnte man sich leisten, man musste nicht uptodate sein, es ging eher um Uniformität als um die teuersten Klamotten. Ich kenne keine Untersuchungen über Werteverschiebungen bei Schülermilieus. Zu Studierendenmilieus liegen verschiedene Studien vor und hier bestätigt sich, dass der Habitus der Betriebswirtschaftsstudierenden die Hegemonie in der Studierendenschaft übernommen hat und dass das bedeutende Alternativmilieu innerhalb der Studierendenschaft der 1980er Jahre sich nach und nach auflöste. Ein wenig platt und sicherlich unzulässig verallgemeinert kann man sagen, dass heute alle Studierenden Betriebswirtschaft studieren.
Zudem liegen Studien zu Elternverhalten vor. Eine jüngere Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung (!) spricht von einer Klassengesellschaft und beobachtete, dass Mittelschichtseltern bestrebt sind, ihre Kinder von Kinder aus der sogenannten Unterschicht fern zu halten, was auch zu Wohnungswechsel in anerkanntere Stadtviertel führt. Der Leistungsdruck auf die Kinder aus Mittelschichtsfamilien sei enorm.

Anerkennungsdissidenz
Zu wenig erforscht sind die Phänomene, die ich als Anerkennungsdissidenz und Anerkennungssubsistenz bezeichne. Anerkennungsdissidenz meint das Aussteigen aus Anerkennungsstrukturen, Anerkennungssubsistenz meint das Aufbauen eigener Anerkennungsstrukturen, die von den hegemonialen Anerkennungsstrukturen unabhängig sind. Amokläufer sind nicht anerkennungsdissident. Sie bauen keine Anerkennungssubsistenz auf. Auch wenn sie sich in eine Scheinwelt flüchten, bleiben sie extrem abhängig von den Anerkennungsstrukturen, die ihnen nicht genügend Anerkennung geben können. In der Psychotherapie werden Anerkennungen mit Nahrungsmitteln verglichen. Man braucht sie zum leben und Menschen die hungern, essen auch giftige Nahrung. Giftige Nahrung ist die Metapher für negative Anerkennung, es ist besser gehasst als ignoriert zu werden.
Die 80er Jahre erlaubten Anerkennungsdissidenzen und es gab mit den Alternativmilieus auch für Schüler Möglichkeiten sich jenseits des kapitalistischen Verwertungsdenkens Anerkennung zu holen. Huisken und Heitmeyer ist also Recht zu geben, wenn sie die mangelnde Anerkennung aufgrund des kapitalistischen Konkurrenzdenkens und des marktgesellschaftlichen Bewertungskategorien in den Fokus stellen. Dies erklärt aber nicht hinreichend, weshalb bestimmte Menschen zu Amokläufern werden.

Mittelschichts-Protestmännlichkeit
Alfred Adler und Otto Rühle untersuchten bereits in den zwanziger Jahren die sogenannte “Proletarische Protestmännlichkeit”. Wir können bei den jungendlichen Amokläufern von “Mittelschichts-Protestmännlichkeit” sprechen. Es sind junge Männer aus der Mittelschicht, die sozial isoliert waren und die gegenüber ihren Eltern einer Deklassierung ausgesetzt sind. Wenn wir uns vor Augen halten, wer nach der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre auf der Straße marschierte und den Nationalsozialismus durchsetzte, dann haben wir es hier mit dem gleichen Täterprofil zu tun: junge Mittelschichtsmänner, die sich gegen eine Deklassierung wehren. Die Amokläufer von heute sind keine Neonazis, aber es wäre sinnvoll die Gewaltbereitschaft zu untersuchen, die mit einer bestimmten klassenspezifischen Männlichkeit einhergeht, die nicht ihre “angestammte” Klassenposition einnehmen kann. Gerade in der jetzigen Weltwirtschaftskrise kann Deklassierung zu einem Massenphänomen werden. Zu untersuchen wären die Handlungsoptionen von heranwachsenden Männern aus der Mittelschicht, inwiefern lässt der männliche Mittelschichtshabitus eine Deklassierung, ein Nichtererben der elterlichen Klassenposition zu? Greifen die herkunftsspezifischen Anerkennungsstrukturen für diese Männer noch und sind sie in einer deklassierten Position offen für alternative Anerkennungsstrukturen die nicht in faschistischen Allmachtsphantasien münden?

P.S. Nachdem ich diesen Blogbeitrag geschrieben hatte, stieß ich auf einen sieben Jahre alten Artikel aus dem “Freitag”, der im wesentlichen die gleichen Aussagen enthält wie mein Artikel: Gerhard Hafner: Lief Herr S. Amok?

Hier noch ein spannender Beitrag von Prof. Katherine S. Newman, gefunden im Blog homo sociologicus

2 Kommentare

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  1. Anonym

    “Wenn wir uns vor Augen halten, wer nach der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre auf der Straße marschierte und den Nationalsozialismus durchsetzte, dann haben wir es hier mit dem gleichen Täterprofil zu tun: junge Mittelschichtsmänner, die sich gegen eine Deklassierung wehren”

    Ist das historisch wirklich noch haltbar? Ich weiß, daß es die Lieblingsgeschichte aller Anhänger der Arbeiterklasse ist, weil es den Eindruck erweckt, die Klassenbasis des Nationalsozialismus simpel beschreiben zu können. Aber mir ist dabei zu undeutlich, in welchen Punkten sich die “richtigen” Arbeiterparteien mit den Nazis inhaltlich und auch vom Appeal trafen; ebenso wenig kommt darin vor, daß auch die wohlhabenderen Teile des Kleinbürgertums, die von der Krise gar nicht so sehr betroffen waren, die Nazis massiv unterstützten.

    Auch nicht egal: die Nazis genossen, wie man etwa von Peter Fritzsche lernen kann, schon vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise eine erheblich größere gesellschaftliche Unterstützung und politische Relevanz als bloße Wahlergebnisse abbildeten.

  2. Mir ist durchaus bewusst, dass die Anhänger des Nationalsozialismus aus allen gesellschaftlichen Schichten kamen. Aber nicht gleichverteilt:

    “Mitglieder und Wähler kamen vor allem aus den Schichten, die sich von der Krise in ihrer Existenz bedroht sowie um ihre Zukunft betrogen fühlten und die auf eine Veränderung aber nicht im Sinne der sozialistischen Parteien drängten. … Aktive Mitglieder der NSDAP waren vor allem jüngere Männer. Nur 7,8 Prozent der Neuzugänge zwischen 1925 und 1932 waren Frauen. Fast 70 Prozent der Mitglieder im Jahre 1930 waren jünger als 40 Jahre, 37 Prozent jünger als 30 Jahre. Auch von den Parteifunktionären waren 65 Prozent unter 40 Jahre, 26 Prozent unter 30. Neben der sozialen Rekrutierung spielte also das Alter, das jugendliche Auftreten, eine erhebliche Rolle für den Beitritt zur NSDAP. In sozialer Hinsicht stammten von den neuen Mitgliedern der Jahre 1930 bis 1932 35,9 Prozent aus den Unterschichten, 54,9 Prozent aus der unteren Mittelschicht und 9,2 Prozent aus der Oberschicht. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung waren die untere Mittelschicht und die Oberschicht deutlich überrepräsentiert, die Unterschichten unterrepräsentiert.”Thamer, Hans-Ulrich: Die nationalsozialistische Massenbewegung in der Staats- und Wirtschaftskrise, in: Nationalsozialismus I, Informationen zur politischen Bildung (Heft 251)

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