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Zum Klassismus mathematischer Anordnungen

Hier eine kurze Einleitung, die ich nachträglich eingeführt habe:

„Alles Gute kommt von oben“ heißt es, unsere Gesellschaft ist geprägt von Vertikalismen, die das Oben mit dem Guten, das Unten mit dem Bösen verbinden. Das beginnt mit der Bibel (Himmel und Hölle), mit Jakobs Himmelsleiter, zieht sich über die antike Emanationstheorie Plotins, wonach der Geist als das Licht nach unten scheint, aber das Unten in Finsternis lässt, und der Hochscholastik Thomas von Aquins, die sich in der vertikalen Architektur des Feudalismus abbildet mit Kirchenhäuser, die für den Adel höhere Positionen vorsahen. Die bürgerliche Gesellschaft übernahm die Topologie der höheren und niederen Stände, die Vertikalismen verbanden sich mit Evolutionstheorien von Höherentwicklung, mit eugenischen Vorstellungen des Aufstiegs und Falls von Völkern, Nieztsche sprach von Übermenschen, Stoddard, Rosenberg und Himmler schließlich von Untermenschen, die infernografische Ideen Rosenbergs standen im Zusammenhang mit der Fantastik. Bei Wells entwickelte sich die Unterschicht zu Morlocks, die in Höhlen wohnten und die Oberschicht, die Eloi fraßen; verwandt sind hier die Orks (unten) und Elben (oben) von Tolkien. Vertikalismen finden sich auch in der Wissenschaft: In der Bildungsforschung wird von Hochschulen, Bildungsaufstieg, überhaupt von Erziehung gesprochen, in der Sozialstrukturanalyse von Unterschichten und Oberschichten, in der Ungleichheitsforschung von horizontalen und vertikalen Ungleichheiten. Die beherrschte Klasse wird mit Unten, die herrschende Klasse mit dem Oben verbunden. Diese Denkschemata gehen unmittelbar mit Bewertungsschemata einher: Unten ist ab(!)gewertet, Oben ist auf(!)gewertet.

Mit diesem Vorspann wird der eigentliche Artikel vielleicht verständlicher, der darauf hinweisen will, dass selbst in mathematischen Anordnungen Vertikalismen zu finden sind, die dort nichts zu suchen haben. (Hinzugefügt am 15.03.2013)

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3 ist nicht höher als 2, 13 ist keine niedrigere Zahl als 17. Es besteht kein Grund, in Koordinatensystemen positive Zahlen über negative abzubilden. Wer einwendet, dass doch aber ein dreißigmeter hohes Haus höher ist als ein zwanzigmeter großes, der sollte realisieren, dass eine Lampe mit einem dreißigzentimeter langen Kabel tiefer hängt als eine mit einem zwanzigzemtimeter langen. Und es sollte bedacht werden, dass ein habgieriger reicher Mensch mit 30 kg Münzen im Gepäck im Morast schneller tiefer sinkt als ein Habenichts ohne Gewicht. Zahlen haben nichts mit Höhe zu tun, eine Grube ist 20 Meter tief, nicht minus 20 Meter. Überhaupt gibt es im Weltraum kein oben und unten.

Ich zitiere hier Michel Foucault aus dem Kapitel Die Formation der Begriffe (Michel Foucault: Die Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1981):

Welche Beziehungen die allgemeine Grammatik mit der Mathesis (mit der kartesianischen und nachkartesianischen Algebra, mit dem Plan einer allgemeinen Ordungswissenschaft) unterhält, mit der philosophischen Analyse der Repräsentation und der Theorie der Zeichen, mit der Naturgeschichte, den Problemen der Charakterisierung und der Taxinomie, mit der Analyse der Reichtümer und den Problemen der arbiträren Zeichen von Maß und Tausch: Wenn man diese Beziehungen findet, kann man die Wege bestimmen, die von einem Gebiet zum anderen die Zirkulation, die Übertragung, die Modifikation der Begriffe, die Veränderung ihrer Form oder den Wechsel ihres Anwendungsgebietes sichern. (S.90)

Es ging Foucault hier um die vorbegriffliche Ebene, die als Denk- und Bewertungsschemata Bezeichnungen eine Plausibilität geben. Das heißt im Falle des Oben-Unten-Denkschemas, dass es nicht nur problematische klassenbezogene Untergangs- und Untermenschen-Diskurse gibt, sondern bereits vorbegriffliche mathematische Anordnungen uns denken lassen, dass ein Mensch mit einem Einkommen von 5000 Euro monatlich über jemanden steht mit einem Einkommen von 1000 Euro. Aber 5000 Euro Einkommen ist gar nicht „höher“ als 1000 Euro, er erhält mehr Geld, aber kein „höheres“. Das Einkommen ist vier mal mehr, aber nicht vier mal höher. Nur wenn das Einkommen monatlich in gleichen Einheiten gestapelt ausgezahlt werden würde, wäre das Einkommen des einen vier mal höher als das des anderen.

Es wird nur deshalb von „höherem“ Einkommen gesprochen, um dieses in einem Denkschema einbauen zu können:

In diesem Denkschema beinhaltet eine „höhere“ Herkunft einen „höheren“ IQ also eine „höhere“ Begabung oder auch „Hochbegabung“, was es plausibel macht, dass diese Kinder auf eine „höhere“ Schule gehören und mit den „höheren“ Abschlüssen die „Hochschulberechtigung“ erhalten, wo sie sich eine „höhere“ Bildung aneignen um mit ihrer „Höherqualifizierung“ „höhere Stellenangebote“ zu erhalten, wo sie dann aufgrund „höherer“ Verantwortung ein „höheres“ Einkommen erhalten.

Die gleiche Plausibilitätskette ließe sich auch von „niederer“ Herkunft zum „niedrigen“ Einkommen abspulen. Derart kann der Calvinist und Volkswirtschaftler Bernd Lucke (AfD) von „sozialen Bodensatz“ sprechen – in der Topologie der protestantischen Wirtschaftsordnung ist „hohes“ Einkommen Nähe zu Gott.

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