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Zur Klassismus-Debatte

Zur aktuellen Klassismus-Debatte möchte ich hier einige Anmerkungen unterbringen. Es sind unsortierte Gedanken, Anmerkungen, ergänzendes Material. Aus Zeitgründen ist dieser Beitrag in zwei Teile gegliedert. Den Abschnitt zu Klassismus als Empowerment-Begriff könnt ihr bereits jetzt schon lesen. Der Artikel zum Thema Klassismus als Gesellschaftsanalyse folgt in Kürze.

Klassismus! und Klassismus

Zunächst macht die aktuelle Debatte deutlich, dass zwischen dem Begriff Klassismus! als Empowerment-Begriff und dem Begriff Klassismus als gesellschaftlichem Begriff unterschieden werden muss.

Diskriminierungserfahrungen entziehen sich oftmals der Möglichkeit, diese zu verbalisieren. Die Betroffenen spüren, dass da etwas schräg läuft, aber es fehlen buchstäblich die Worte. Dass diese Worte fehlen, ist ja kein Zufall. Im Bereich Klassismus sind gleich von zwei Seiten die Vokabeln geraubt worden.

Klassenbegrifflichkeiten wurden seit Jahrzehnten lächerlich gemacht; Proletariat, Prolo, Proll wurden zu abwertenden Bezeichnungen. Und seit genau zwanzig Jahren gibt es einen konservativen Anti-PC-Diskurs, der sich gegen Empowertment und Maßnahmen gegen Diskriminierung wendet: Political Correctness, Gutmenschen, Ideologen, Tugenterror bzw. Tugendfuror… Die beiden Importeure dieses Diskurses, Matthias Matussek und Dieter E. Zimmer waren beide schon länger im Anti-Antidiskriminierungsgeschäft tätig. Als bekannter Antifeminist empfahl Matussek die konservative Strategie Anti-PC im SPIEGEL, Dieter E. Zimmer – der schon dreißig Jahre vor Sarrazin Thesen zur angeblichen Vererbung von Intelligenz  vertrat – machte diesen Diskurs in der ZEIT bekannt.

In diesem Klima Klassen-Diskriminierung zur Sprache zu bringen ist schwierig. Es erinnert an die von George Orwell in 1984 gezeichnete Gesellschaft, in der systematisch Formulierungen aus der Sprache getilgt wurden, die eine kritische Reflektion ermöglichen könnten. Aber selbst noch Orwell wurde vom konservativen Anti-PC-Diskurs annektiert. Während mit Workfare und einem Revival von Bürgerlichkeit und Refeudalisierung, dem Etablieren von deutsch-bürgerlichen Leitbildern Sekundärtugenden und Untertanmentalitäten eingefordert werden, können sich diese Neo-Spießer_innen als Rebell_innen darstellen. Man ist in allem korrekt, nur nicht im Umgang mit diskriminierten Gruppen. Dass die Tea-Party-Bewegung schon längst nicht mehr nur ein us-amerikanisches Phänomen ist, zeigen die überfüllten Hallen bei Sarrazin- oder Alternative-für-Deutschland-Veranstaltungen.

Dies also ist das politische Klima in dem Empowerment stattfindet. Es erklärt, warum vor laufenden Kameras ein Armuts- und Reichtumgsbericht umgeschrieben werden kann. Es erklärt, warum Politiker_innen vor Bundestagswahlen eine Faulheitsdebatte nach der nächsten raushauen können unter Beifall und Unterstützung der Massenmedien. Und es erklärt, warum eine Bildungsbenachteiligungsstudie nach der anderen ohne Konsequenzen verhallt.

Menschen, die sich gegen Diskriminierungen wehren, brauchen dafür Wörter. Wichtig hierfür ist die Wiedererkennbarkeit, es geht darum, gesellschaftliche Probleme nicht individuell wegzutherapieren, sondern aus der individualisierten Ohnmacht herauszukommen. Ernst Bloch benennt dies mit einem Prozess, in dem es darum gehe, vom Ergriff zum Begriff zu bekommen. Die Ergriffenheit in Form von Wut oder Traurigkeit kann in Selbstverletzungen umschlagen oder mündet in einer resignativen Gratifikationskrise, wenn sie nicht in eine machtvolle Sprache umgewandelt wird. Es geht darum, nicht mehr nur markiertes Objekt zu sein, sondern zum markierenden Subjekt zu werden. Der Begriff Klassismus ist hier genau richtig, da er zum einen Klassendiskriminierungen benennt, zum anderen aber auch einen Schulterschluss mit den anderen emanzipatorischen Bewegungen einfordert, Klassismus reiht sich als Empowerment-Begriff ein zwischen den Begriffen Rassismus und Sexismus, stärkt somit zugleich die Bewegung gegen Diskriminierung, fordert aber auch deren Solidarität.

Betrachten wir die Herkunft des Begriffs Klassismus, so zeigt sich, dass er tatsächlich als Empowerment-Begriff eingeführt wurde. Ich habe 2006 in den Vereinigten Staaten eine Studienreise gemacht, um zu erfahren, woher der Begriff Classism kommt. Die vor kurzem verstorbene Aktivistin Felice Yeskel, Gründerin von Class Action/ classism.org, bestätigte mir meine Vermutung, dass zunächst die Furies (dt.: die Furien), eine Gruppe von lesbischen Arbeiter_innentöchtern Anfang der 1970er Jahre in New York, diesen Begriff benutzte. Mit der selbstironisierenden Bezeichnung The Furies scheinen sie bereits vor über vierzig Jahren geahnt zu haben, dass sich irgendwann jemand besonders schlau vorkommen wird, wenn er mit Schlagwörtern wie Tugendfuror Emanzipation mundtot machen möchte. Ihre Beiträge hätten auch unter der Überschrift Bambule, Randale, Queer-Radikale! stehen können, dem Text von Clara Rosa, mit dem die aktuelle Klassismus-Debatte nach einigen Vorläufern hier vor einer Woche begonnen hat. Klassismus, bzw. Classism, ist hier ein Begriff mit Ausrufezeichen. Eventuell hatte vor den Furies bereits die Co-Counsel-Szene in den USA den Begriff Classism genutzt. Auch diese Vermutung teilte Felice Yeskel mit mir, konnte dazu aber nichts genaueres sagen. Das Re-Evaluations-Counseling wurde als Therapie ohne Therapeuten von einem Gewerkschafter für die Arbeiter_innenklasse entwickelt. Ziel dieser Selbsthilfe-Therapie ist, habituelle Verhaltensmuster zu durchbrechen, um rational gegen die Unterdrückung im Kapitalismus vorgehen zu können. RC-Counseling ist deutlich antikapitalistisch positioniert und hat eventuell schon vor den Furees den Begriff classism benutzt, um diese spezifische Diskriminierungsform verbalisieren zu können. RC-Counseling wurde übrigens in Europa von der Feministin Anja Meulenbelt in die politische Diskussion eingebracht, die sich in mehreren Artikeln für politische Therapie aussprach. Es ist kein Zufall, dass Anja Meulenbelt mit dem Buch Scheidelinien den Begriff Klassismus im deutschsprachigen Raum bekannt machte. Dort allerdings wurde der Begriff bereits gesellschaftsanalytisch benutzt. Bevor ich auf Klassismus als analytischen Begriff und nicht als Empowerment-Begriff mit Ausrufzeichen eingehe, möchte ich noch kurz ein paar Sätze zur Selbstorganisierung formulieren.

Es geht bei den Angriffen gegen den Begriff Klassismus nicht nur gegen den Begriff. Es geht hier auch um eine Selbstorganisierung, die mit dem Begriff Klassismus stattfindet. Vor allem geht es gegen eine Selbstorganisierung von Studierenden aus der Working Class. Die Hochschule sei nicht der richtige Ort, um über Klassenfragen zu sprechen, wird von bestimmten marxistischen Gruppen (die Marx gar nicht verstanden haben – doch dazu später mehr) eingewandt und unterstellt, hier wollen nur einige ihre Karriere sichern. Der Klassenkampf hingegen müsste im Betrieb, auf der Straße, unter Arbeitslosen, im Marx-Diskussionskreis oder wo auch immer stattfinden, jedenfalls nicht an der Uni. Es fällt auf, dass nicht etwa Arbeiterkind.de mit ihren über 60 Gruppen angegriffen wird, die explizit unpolitisch sind und daher auch keinen politischen Begriff wie Klassismus benutzen. Stattdessen werden vehement Selbstorganisierungsversuche von Working Class Academics angegriffen, die sich sehr wohl bewusst sind, dass es um Politik geht, dass wir in einem kapitalistischen Staat leben. Es wird nicht berücksichtigt, dass Befreiungsbewegungen oftmals an Hochschulen entstehen und dass es dafür Gründe gibt. Hochschulen sind eben mehr als ihre eigentliche „Bestimmung“, da sie zeitliche und materielle Ressourcen zur Verfügung stellen. Howard Zinn beschreibt in seiner Biografie, wie schwarze Studentinnen seiner Hochschule vor sechzig Jahren begannen, sich selbstbewusst in Cafés für Weiße zu setzen und wie die Hochschule genutzt wurde, um diese Anfänge der Bürgerrechtsbewegung zu reflektieren. In den 1990er Jahren erhielten die Kämpfe zwischen konservativen und emanzipativen Kämpfen in den USA das Label „Campus-Wars“, weil diese Kämpfe an Hochschulen geführt wurden. Die 68er-Bewegung wäre ohne Hochschulen zumindest in Deutschland undenkbar gewesen. Und auch die neueste Welle des Feminismus hat sich beginnend mit dem Tomatenwurf vor allem auch an Hochschulen entwickelt. Zudem sind die autonomen Frauen-, Schwulen-, Lesben-, Behindertenreferate an den westdeutschen Hochschulen sehr wichtig gewesen für die Entstehung der entsprechenden Anti-Diskriminierungsbewegungen.  Hochschulen dienen nicht einfach nur ihrer „Bestimmung“, akademische Arbeits- und Führungkräfte hervorzubringen, sie sind auch soziale, politische Orte.

Ein interessantes Phänomen: während immer schon bekannt war, dass Arbeiter_innenkinder im Bildungssystem benachteiligt werden, entstanden an Hochschulen zwar Frauen-, Lesben-, Schwulen-, Behindertenreferate, nicht aber Arbeiter_innenkinder-Referate. Meine Recherchen haben ergeben, dass Studierende mit niedriger sozialer Herkunft hier ganz einfach zwischen die Fronten der Alten und der Neuen Sozialen Bewegung gerieten. Die autonomen Antidiskriminierungsreferate entstanden im Zuge der Neuen Sozialen Bewegungen, die eine Politik des Alltags, der ersten Person, der Selbstorganisierung entwickelten. Das Persönliche ist politisch war damals die Losung des Feminismus, aber auch die autonomen Basisgruppen und die Alternativbewegung entwickelte entsprechende Politikmodelle „von unten“. Die Politisierung des Alltags war den vor allem männlichen Funktionären der marxistischen oder sozialdemokratischen gewerkschaftlich orientierten Gruppen fremd. Gabriele Theling war Mitglied im marxistischen MSB-Spartakus an einer münsteraner Hochschule und sie fühlte sich als Arbeitertochter dort nicht ernstgenommen, wie sie in ihrem Buch „Vielleicht wäre ich als Verkäuferin glücklicher geworden. Arbeitertöchter und Hochschulen“ schrieb. Das Politikmodell dieser gewerkschaftlich orientierten Gruppen ließ eine Selbstorganisierung von Arbeiterkindern an Hochschulen gar nicht zu. Dies Basisgruppen, die hingegen die autonome Selbstorganisierung von benachteiligten Gruppen unterstützten, verabschiedeten sich vom Proletariat als politischem Subjekt. Studierende Arbeiterkinder hatten keine Unterstützung, entweder aus politikformalen (GO-Gruppen) oder aus inhaltlichen (Basisgruppen) Gründen. Es ist unnötig zu erwähnen, dass die Meinungsführer von GO- und Basis-Gruppen Akademikerkinder waren und mit unterschiedlichen Argumenten sich die Hände reichen konnten in ihrer Einigung, dass Selbstorganisierung von Arbeiterkindern an Hochschulen Quatsch sei.

Als wir vor zehn Jahren in Münster die erste selbstorganisierte Vollversammlung von Arbeiterkindern gründeten, wurden wir massiv angegriffen. Diese Angriffe kamen in erster Linie von liberalen und christdemokratischen Studigruppen. Das Arbeiterkinder-Referat orientierte sich formal an die schon bestehenden autonomen Antidiskriminierungsreferate, zuerst waren allerdings alle politischen Gruppen dagegen, auch die linken.  Zur ersten Vollversammlung kamen 80 Studierende. Obwohl das Referat erfolgreich ist, vom Studierendenparlament nach zehn Jahren nun endlich auch in die Satzung übernommen wurde und obwohl es bei der letzten Vollversammlung der studierenden Arbeiter_innenkinder sechzig Interessierte teilnahmen, ist das Referat nach wie vor ein Unikum. Die Schwelle für eine Selbstorganisierung von Working Class Academics scheint sehr hoch zu sein. Wer Klassismus benennt, muss sich bereits auf Angriffe gefasst machen, wenn aus dieser bloßen Benennung Tendenzen einer praktischen politischen Selbstorganisierung deutlich werden, verstärken sich diese Angriffe. Auch als wir das Referat eingerichtet hatten, hörten die Angriffe nicht auf. Diese Angriffe kommen nicht nur von rechts. Eine Gruppe, die dem Gegenstandpunkt nahe steht, der ja oftmals das Engagement gegen Bildungsbenachteiligung kritisierte, weil die eigentliche Bestimmung der Hochschule in der Konkurrenzgesellschaft doch sei, kapitalismuskonforme Führungskräfte zu generieren und es daher nichts nütze, wenn Arbeiterkinder studieren, im Gegenteil, dass diese noch viel hinterhältigere Chefs werden, hat vor einigen Jahren nicht davor zurückgeschreckt, dass Referat für Arbeiterkinder in Münster zu okkupieren. Mit den Ressourcen des Arbeiter_innenkinder-Referates wurden dann Gegenstandpunkt-Veranstaltungen organisiert, in denen Freerk Huisken dann den anwesenden Arbeiterkindern erzählen konnte, wie dumm sie seien, wenn sie gegen Benachteiligung kämpften und auch noch glaubten, das wäre Politik. Diese Anekdote soll klar machen, dass einer Selbstorganisierung von studierenden Arbeiter_innenkindern nicht nur rechtskonservative Burschenschaftler entgegenstehen.

Der Begriff Klassismus ist also in erster Linie ein Begriff des Empowerments, es ist ein Begriff für die Selbstverständigung und Selbstorganisierung von klassendiskriminierten Gruppen. Ich bin auf die Hochschulen im Besonderen eingegangen, weil dies mein Lebensbereich ist. Den ersten Texten in dieser Klassismusdebatte eine Motivation der Karriereorientierung vorzuwerfen ist extrem unfair. Schließlich wird die Kritik an Arbeiterkind.de vor allem von politisch selbstorganisierten Working Class Academics geführt. Der Begriff Klassismus ist ein Begriff auch in der Kritik an die unpolitische Selbstorganisierung, wo es eben unreflektiert nur Charity geht, aber nicht um politische Solidarität.

Soviel erst einmal zum Begriff Klassismus mit Ausrufezeichen. An diesen hat sich die Gesellschaftsannalyse, die mit dem selben Begriff vorgenommen wird, zu orientieren. Hier gehts zum zweiten Teil: Klassismus als gesellschaftsanalytischer Begriff.

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