Die virtuelle Realität „männlicher Schaffenskraft“ im Kapitalismus

· Allgemein

Einige Thesen zum Zusammenhang von männlicher Gewalt, vermeintlicher männlicher Schöpfungskraft und gesellschaftlicher Disziplinierung

  1. Gesellschaftliche Arbeit geht über die reine Bestandserhaltung hinaus, sie ermöglicht einen gesellschaftlichen Fortschritt durch das gesellschaftliche Mehrprodukt der gesellschaftlichen Arbeit.
  2. Der individuelle Beitrag gesellschaftlicher Schaffenskraft wurde und wird noch immer oft als männliche Potenz vorgestellt (imaginiert), also als Imagination oder Illusion einer bestimmten männlichen Schaffenskraft.
  3. Eine Kritik an Männlichkeit darf sich daher nicht auf Kritik an männlicher Aktivität (Actus) oder an männlichen Einstellungen (Habitus) beschränken, sondern sie muss auch die Umdeutung der Fähigkeit zum gesellschaftlichen Mehrprodukt / Fortschritt als männlich bestimmte individualisierte Schaffenskraft (Virtus) beinhalten.
  4. Die Entstehung des Kapitalismus ging mit einer kollektiven Disziplinierung in Arbeitshäusern, weltlichen und religiösen Ausbildungsstätten, Gefängnissen und Kasernen einher, mit der gewaltvollen, „blutigen“ (Marx) Fabrikation der Fabrikarbeiter*innen.
  5. Die Disziplinierung als ein Kernbestandteil des gesellschaftlichen Fortschritts im Kapitalismus ging und geht mit gesellschaftlicher Gewalt und gesellschaftlicher Traumatisierung einher.
  6. Gewalt kann traumatisieren und Traumatisierung kann zur Identitifikation mit dem Gewalttäter führen. Gewalttätige Disziplinierung kann somit dem Zweck der Identifikation mit dem Aggressor dienen: Das Opfer soll nicht mehr denken, dass 2+2=4 sei, es soll auch nicht einfach nur verwirrt werden (2+2=5), sondern es soll denken, dass 2+2 genau das sei, was der Aggressor gerade als neue Wahrheit verkündet.
  7. Eine gesunde Traumaarbeit geht mit der Fähigkeit zur Konhärenzarbeit einher, der Fähigkeit, die vielen Splitter des Ichs und der Gesellschaft durch den Austausch mit dem gesellschaftlichen Umfeld sinnvoll zusammen zu setzen.
  8. Die Identifikation mit dem Aggressor orientiert sich hingegen an der Macht des Aggressors, erklärt die eigenen Widersprüche und die des gesellschaftlichen Umfelds für pro-fan und sucht dergestalt durch die fanatische Ausrichtung auf ein ^höheres Ich das Trauma der Gewalt zu überwinden.
  9. Als Beispiel für eine derartige Fanatisierung kann das Buch „Il Principe“ herangezogen werden, welches Niccolo Machiavelli unmittelbar nach seinen Folterungen im frühkapitalistischen Florenz „mit verkrüppelten Händen“ seinen Folterern, den Medici, widmete.
  10. Im Zentrum „Il Principes“ steht die männliche Schaffenskraft „Virtù“, symbolisiert durch Herkules, der die Schicksalsgöttin Fortuna am Schopfe packt, niederringt und verprügelt:„Fortuna ist ein Weib; um es unterzukriegen, muss man es schlagen und stoßen. Man sieht auch, dass es sich leichter von Draufgängern bezwingen läßt als von denen, die kühl abwägend vorgehen.“
  11. Auf Machiavellis Imagination einer männlichen Schaffenskraft „Virtù“ beziehen sich u.a. der Begründer des Faschismus, Benito Mussolini, Donald Trumps Chefideologe Michael Anton („The election of 2016 will test whether virtù remains in the core of the American nation.“ 5. September 2016) und die zentrale Figur des faschistischen Flügels der AfD, Björn („Landolf“) Höcke.
  12. Die Imagination einer männlichen Schaffenskraft „Virtù“ ist daher nicht einfach nur eine individuelle oder kollektive Vorstellung, sondern sie führt im Kapitalismus zu gesellschaftlichen Systemen männlicher Gewalt, zu gesellschaftlichen Virtualisierungen, die ihre Scheinwelt, ihre Virtualität durch die Gewalt der Virtu aufrecht erhalten und ausbauen.
  13. Die mit dieser Virtualisierung einhergehenden ideologischen Fragmente einer verkürzten Kapitalismuskritik dienen vor allem als Abzeichen zur Zugehörigkeit einer abgegoltenen Systemalternative, es sind „Embleme“ einer Diskurskoalition reaktionärer Strömungen, (faschistisch, religiöse-fanatisch oder totalkapitalistisch („anarcholibertär“)), die den Tag X des Systemzusammenbruchs und der „Abrechnung“ mit den Feinden versprechen.
  14. Der fehlende Blick auf die klassistische Gewalt gesellschaftlicher Disziplinierungen, die damit einhergehende gesellschaftliche Traumatisierungen und Identifikationen, haben auf marxistischer Seite zum einen damit zu tun, dass der „real existierende Sozialismus“ selber Disziplinierungen anwandte und daher nicht öffentlich der Kritik aussetzen wollte, zum anderen mit dem Habitus von Akademikersöhnen, die im Westen die marxistische Kapitalismuskritik bestimmen (Oskar Negt führte an, dass von einhundert Mitgliedern des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes nur Alfred Schmidt und er selber Arbeiter- bzw. Bauernkinder waren), auf bürgerlicher Seite aber bereits schon mit der Verleugnung, dass das Mehrprodukt gesellschaftlicher Arbeit den Arbeitenden enteignet wird, dass sie nur erhalten, was der Wiederherstellung ihrer Arbeitskraft dient, mit der Folge, dass die ärmere Hälfte der Bevölkerung keinerlei nennenswertes Vermögen besitzt, während die Reichen immer reicher werden, was wiederum mit einer vermeintlichen Schaffenskraft (vor allem männlicher) Unternehmer legitimiert wird.
  15. Wichtig für eine Dekonstruktion des hier als Virtualität benannten Regelungssystems männlicher Fanatisierung mit dem Kerngedanken einer vermeintlich unterdrückten besonderen männlichen Schöpferkraft Virtù wäre daher die Anerkennung realer gesellschaftlicher Schaffenskraft (insbesondere auch weiblicher Care-Arbeit) durch den Abbau gesellschaftlicher Disziplinierungsmaßnahmen und die demokratische Ermächtigung der Produzent*innen in der Verfügungsgewalt über die Produkte ihrer Arbeit, also Klassendeproduktionen.

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