Ohrfeige für aktuelle Antidiskriminierungspolitik (Sinus-Studie I)

Letzte Woche (02.04.09) stellte die Antidiskriminierungsstelle des Bundes die von ihr in Auftrag gegebene Sinus-Studie „Diskriminierung im Alltag – Wahrnehmung von Diskriminierung und Antidiskriminierungspolitik in unserer Gesellschaft“ vor. Würde die Bundesregierung die Antidiskriminierungspolitik ernst nehmen, so wären die Ergebnisse dieser Studie für sie ein Desaster.

Nachdem ich mir erst mein Adobe-Programm aktualisieren musste, um die Studie runterladen zu können, habe ich nun endlich die Studie gelesen und weiß überhaupt nicht, welchen der skandalösen Punkte ich zuerst auflisten soll. Es werden jedenfalls mehrere Blogbeiträge. An dieser Stelle werde ich auf die Ausgrenzung klassenspezifischer Diskriminierungsmerkmale durch die Bunderregierung eingehen. Meine vor wenigen Wochen im Blogbeitrag aufgestellte Forderung Das AGG klassenspezifisch ergänzen hat durch die Studie an aktueller Brisanz gewonnen.

Zunächst lässt sich festhalten, dass die Ergebnisse der beiden Umfragen der EU-Kommission zur Diskriminierung (EU-Barometer) bestätigt werden: Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung ist diskriminierend, an Diskriminierungspolitik nicht interessiert und sie kennt weder das Antidiskriminierungsgesetz, noch die Antidiskriminierungsstelle. Neu ist jedoch, dass die breite Ablehnung der Antidiskriminierungspolitik mit einem Gerechtigkeitsempfinden einhergeht, welches Ungleichbehandlung verurteilt und dass die Diskriminierungsmerkmale Armut, Arbeitslosigkeit und soziale Herkunft als sehr viel schützenswerter wahrgenommen werden als die sechs durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz geschützten Diskriminierungsmerkmale. Dieses Ergebnis durchzieht die gesamte Studie und wird mehrfach betont. Bei einer Befragung, welche Gruppen benachteiligt sind in Deutschland wurden genannt (Mehrfachnennungen möglich):

Umfrage: Welche Gruppen sind benachteiligt?
(Mehrfachnennungen möglich)
AGG-nichtgeschützte Gruppen
„Sozial Schwache“: 113%
(Unter dem abwertenden Begriff „Sozial Schwache“ fasst die Studie Arme, Arbeitslose, Kinder armer Eltern, arme Alleinerziehende zusammen)

AGG-geschützte Gruppen

Ethnische Herkunft, „Rasse“: 34%
Behinderung: 33%
Alter: 27%
Geschlecht: 13%
Sexuelle Identität: 4%
Religion oder Weltanschauung: 3%
(Sinus-Studie „Diskriminierung im Alltag“, Kapitel IV, S. 48f. April 2009)

Die Studie fasst zusammen:

Das drängendste Problem: Soziale Segregation und neue Armut
Quer durch die befragten Gruppen und Milieus ist das am stärksten bewegende Thema heute die zunehmende Benachteiligung der sozial Schwachen in unserer Gesellschaft: Arbeitslose, Hartz-IV-Empfänger, Ein-Euro-Jobber, Sozialrentner, Kassenpatienten, Sozialhilfeempfänger, Alleinerziehende, Kinderreiche etc. – also Menschen ohne ausreichende finanzielle Mittel. Lediglich im Kontext sozialer (= materieller) Benachteiligung werden auch Migranten, Behinderte, Ältere und Frauen in die Gruppe der schutzwürdigen Diskriminierten („denen unser Mitgefühl gilt“) einbezogen.“ (Diskriminierung im Alltag, S. 37f.)

Oder noch kürzer:

Forschungsfrage: Welche Gruppen gelten als benachteiligt?
Befund: In allererster Linie die sozial Schwachen. (Diskriminierung im Alltag, S. 47)

Deutlicher geht es nicht. Aber die Bundesregierung sieht keinen Handlungsbedarf – übrigens auch nicht die rot-grünen Vorgänger: Im Grünbuch der EU-Kommission zur Antidiskriminierungspolitik hat die Kommission gefragt, ob die europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien um die in der EU-Charta der Menschenrechte verbotenen Diskriminierungen ergänzt werden sollten. Es ging hierbei explizit um Diskriminierungsmerkmale wie soziale Herkunft und Vermögen. Auch die rot-grüne Bundesregierung sah hier keinen vordringlichen Handlungsbedarf.

Im Fazit der Sinus-Studie heißt es:

„Die heutige Antidiskriminierungspolitik und insbesondere auch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz haben ein Akzeptanzproblem, weil sie sich nicht der „eigentlichen“ Probleme und Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft annehmen, so wie sie die große Mehrheit sieht (also die wachsende Armut in Deutschland, die Benachteiligung der sozial Schwachen), sondern weil sie sich auf ungeliebte Randgruppen (wie Ausländer, Homosexuelle, Fremdreligiöse) konzentrieren. Diese Art von Antidiskriminierungspolitik wird von vielen als „überflüssiger Luxus“ empfunden, der außerdem noch Geld kostet, das anderswo – etwa im Bildungs- und Gesundheitsbereich – viel dringender gebraucht würde.“(Diskriminierung im Alltag, S. 114)

Hier besteht ein Dilemma, da von der Bundesregierung diese Form von soziale Ungleichheit, die von der Mehrheit der Bevölkerung als das „eigentliche Problem“ gesehen wird, hergestellt wurde und gewollt ist. Das 20-Punkte-Programm des „Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ (die sogenannten fünf Wirtschaftsweisen), mit dem 2002/2003 gefordert wurde, dass es mehr soziale Ungleichheit vor allem in den Bereichen Alter und Gesundheit geben müsse, wurde weitgehend umgesetzt. Will man tatsächlich eine Antidiskriminierungspolitik etablieren, die von der Bevölkerung akzeptiert und mitgetragen wird, so kann man nicht weiter die Gruppen benachteiligen, die von der Mehrheit der Bevölkerung als die schützenswertesten Gruppen gesehen werden. Es reicht dabei nicht aus, wenn zukünftig die Politiker auf diskriminierende Äußerungen verzichten.

Wir haben nach der Studie das Problem, dass aktuell nur privilegierte Milieus die Antidiskriminierungspolitik begrüßen – und das aus fehlender Betroffenheit auch nur unmotiviert, distanziert-emotionslos und ohne nennenswertes Engagement. Ein Diagramm zeigt dieses Dilemma:

Hierzu heißt es:

„Das Dilemma einer fortschrittlichen Antidiskriminierungspolitik ist weniger die Akzeptanz der dahinterstehenden sozialen Normen und Werte als die Durchsetzung ganz praktischer Antidiskriminierungsmaßnahmen im Alltag. Dafür bräuchte es ein motiviertes Unterstützungspotenzial in der Bevölkerung, bei dem Themen-Involvement und Engagement sich mit einem breiten Wahrnehmungsfokus und einer gesellschaftlichen Problemattribution verbinden. Der nicht besetzte obere rechte Quadrant in der Grafik zeigt, dass es in der deutschen Bevölkerung derzeit kein relevantes Potenzial da-für gibt.“(Diskriminierung in Deutschland, S. 97)

Was zu tun wäre, ist somit klar: die Benachteiligung aufgrund von Vermögen und sozialer Herkunft muss ernst genommen werden. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz muss um die in der EU-Charta der Menschenrechte verbotenen Diskriminierungen aufgrund von Vermögen und Soziale Herkunft ergänzt werden.
Felice Yeskel, eine Anti-Klassismus-Aktivistin aus New York, machte an einem Beispiel deutlich, dass Antidiskriminierungspolitik nur möglich ist im „horizontalen Ansatz“, welcher eine Diskriminierungshierarchie vermeidet. Sie erzählte, dass an einer Campus-Uni in den Vereinigten Staaten die schwarzen Studierenden betroffen seien vom Rassismus der weißen Wachleute der Uni. Obwohl die Wachleute an mehreren Anti-Rassismus-Trainings teilnahmen, ließ der Rassismus nicht nach. Schließlich wurde Felice Yeskel gebeten, ein Training durchzuführen. Ihr fiel dabei auf, dass es nicht nur Rassismus gab von weißen Wachleuten gegenüber schwarzen Studierenden, sondern auch Klassismus von Studierenden gegenüber den Wachleuten. Erst als diese Diskriminierungsform anerkannt wurde und deutlich wurde, dass die Wachleute nicht nur Täter sind, sondern auch Opfer einer ständigen Herabwürdigung durch die Studierenden, waren die Wachleute ihrerseits bereit, die rassistische Einstellung aufzugeben.

Nur mit diesem „horizontalen Ansatz“, der gleichberechtigten Anerkennung aller Diskriminierungsmerkmale, lässt sich „das obere rechte Feld“ füllen. Die Antidiskriminierungsstelle brüstet sich zwar damit, den horizontalen Ansatz zu vertreten. Das ist aber momentan noch eine glatte Lüge, da sich dieser horizontale Ansatz nur auf die im AGG genannten Diskriminierunsmerkmale bezieht und die klassenspezifischen Diskriminierungsmerkmale durchgehend ignoriert. Mit der Anerkennung der Diskriminierungsmerkmale „Soziale Herkunft“ und „Vermögen“ würde man nicht nur die „Unterschichts“-Milieus mit ins Boot holen für eine von der Bevölkerung mitgetragenen Antidiskriminierungspolitik, sondern auch die „Bürgerliche Mitte“, die bei allen Ressentiments eine Antidiskriminierungspolitik in der Bildung begrüßen würde (zur Erinnerung: es werden nicht nur Arbeiterkinder durch die derzeitige Bildungspolitik vom Studium abgehalten, sondern generell Nicht-Akademikerkinder).

Die Ablehnung der „Politik“ in der Antidiskriminierungspolitik ist hierbei milieuspezifisch zu unterscheiden. Während die Etablierten und Konservativen als privilegierte Gruppen eine Politik ablehnen, die in Konflikt mit den Interessen von Unternehmen kommen könnte, hat die Ablehnung der Politik bei den „Unterschichts“-Milieus ganz andere Gründe. Hier wird der Staat und dessen „Sozial“-Politik des „aktivierenden Sozialstaates“ als feindlich und unehrlich wahrgenommen. Die Verfolgungsbetreuung durch die HartzIV-Gesetzgebung hat das Misstrauen dieser Milieus gegenüber jeder Regierungspolitik erheblich verschärft. Eine neue Antidiskriminierungspolitik muss wohlwollend und unbürokratisch gestaltet werden.

In der sozialphilosophischen Debatte um „Umversteilung versus Anerkennung“ scheint die Studie Nancy Fraser recht zu geben, dass der Diskriminierungsdiskurs die Sozialpolitik zu berücksichtigen habe, und Axel Honneth hat seine Anerkennungstheorie mit diesen empirischen Daten nun ersteinmal in Übereinstimmung zu bringen. Zudem ist klar, dass neuere empirische Untersuchungen sich nicht mehr alleine auf die im AGG und den europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien genannten sechs Diskriminierungsmerkmalen beschränken darf (wie dies weitgehend auch in der Sinus-Studie geschehen ist), sondern die klassenspezifischen Diskrimierungsmerkmale miteinbeziehen muss. Vorbildlich ist hier die Langzeitstudie „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“, die nach und nach ihren Fokus um klassenspezifische Themen wie Obdachlosen- und Arbeitslosenfeindlichkeit ergänzte. Allerdings geht es in dieser Studie nur um Vorurteilsstrukturen, nicht um sozialökonomische Benachteiligungen.

Da von der Regierung kaum zu erwarten ist, dass sie klassenspezifische Diskriminierungsformen bekämpft, da sie ja im Gegenteil die soziale Ungleichheit in der jetzigen Form begrüßt und hergestellt hat und wahrscheinlich noch zu verschärfen wünscht, sind andere Akteure gefragt, die von der Bevölkerung gewünschte Reduzierung von klassenspezifischer Diskriminierung umzusetzen. Parteien wie „Die Linke“ oder „Grüne/Bündnis 90“ könnten eine klassenspezifische Erweiterung des AGG auf ihre Agenda setzen. Wichtiger noch ist ein echter horizontaler Ansatz in den Antidiskriminierungsgruppen, also die Anerkennung von Klassismus als gleichwertig zu bekämpfende Diskriminierungsform.

Nachtrag (19.04.09):
Durch Zufall stieß ich auf eine aktuelle Studie zur Diskriminierung in Irland. Obwohl auch hier klassenspezifische Diskriminierungsgründe in den Gesetzen nicht formuliert wurden, hat eine umfangreiche Studie neben den neun geschützten Diskriminierungsgründen auch nach den Diskriminierungserfahrungen von Arbeitslosen gefragt. Hier gaben 29% der Befragten an, schon mindestens einmal in den letzten zwei Jahren diskriminiert worden zu ein. Dies war der zweithöchste Wert, nur Menschen mit einer „schwarzen Ethnizität“ haben sich in diesem Zeitraum häufiger diskriminiert gefühlt. Die Frage, ob sie eine erhebliche Diskriminierung erfahren haben, beantwortete diese Gruppe häufiger zustimmend als jede andere der neun offiziell geschützten Gruppen. Gleichzeitig gehört sie zu den Gruppen, die am wenigsten gegen ihre Diskriminierung unternehmen.
Bemerkswert war auch, dass die Frage, aufgrund welchem Diskriminierungsmerkmales die Befragten schon einmal diskriminiert worden seien, 19,3% das Alter, gefolgt von 16,3% die ethnische Zugehörigkeit angaben. Da man nur die neun offiziellen Gründe angeben konnte, war die Angabe „aus anderen Gründen“ mit 30% erstaunlich hoch. Zwar konnte nicht ermittelt werden, welche Gründe dies denn seien, doch erschien es wahrscheinlich, dass es sich um klassenspezifische Gründe handelte, da vor allem Gewerkschaftsmitglieder, Menschen mit geringen Bildungsabschlüssen und Arbeitslose angaben, aus anderen als den neun offiziellen Gründen benachteiligt zu werden.
Die Untersuchung empfahl, Arbeitslosigkeit als Gruppenmerkmal in die Antidiskriminierungsgesetzgebung aufzunehmen.
Hier die Untersuchung von 2008: The Experience of Discrimination in Ireland. Analysis of the QNHS Equality Module

2 Kommentare

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  1. bettina stratmann

    vielen dank für diesen beitrag.

  2. Anonym

    Hier mal ein kleiner Beitrag mit Eck-Daten zu Mehrfach-Diskriminierung:
    1. Mänlich
    2. Gebehindert (70%) seit 1997
    3. aktual Harz IV empfänger
    über 50 % von 6,9 Mio. der Behinderten sind Mänlich davon sind 60% von unmitelbaren Diskriminierung bedroht eine tatsache die die gerne heruntergespielt wird durch einseitge gender Politik seit über 35 Jahren (es gibt nur eine Studie zum them Männer als Opfer von Gewalt (2004) die sogar noch wissenschaftlich al inkonklusiv ab getan wird (weitere forschungen in diesem Bereich werden empfohlen). Die Mehrzahl der Behinderten ist länger arbeitslos als der durchschnitt (Sinus-Milieu) und lebt überwiegend in überwiegen niederigen sozialen verhältnissen (Harz IV). dies ist nur eine kleiner auszug Queer gelesen veröffentlichung der ministerien des Bundes und der UN studien zum thema Diskriminirung. des weiteren bin ich der meinung das das BMI und das BMJ und die untergeordneten Dienststellen Helfeld und Dunkelfeld Studien willentlich und wissentlich verfälschen um diese Thematik nicht aufkommen zu lassen, weil behinderte zum einen nicht von Beamten und Richtern einfach zu diskriminieren sind, da sich in diesen Berufen eine hohe akzeptanz für Mobbing und Diskriminirung finden läst und die mentallität wo nur ein Opfer, da kein täter vorherscht. Behinderte werden in diesem Bereich nicht ernst (für voll) genommen. Durch Strucktuelle- und Faktischevollzugsdeffizite bei Richtern und Beamten wird so eine kallsizistische Diskrimminierung gegenüber dem Volk (besonder an Behinderten messbar) zum ausdruck gebracht (Beispiel: (Beamten-Beleidigung -> verurteilungen! und Beleidigungen gegen übern Bürgern-> Verurteilungen ?)

    Dieser kommentar soll als Anregung dienen weitere Forschungen anzuregen. Betroffene werden dazu aufgefordert selbständig eine meinung zu diesem Themenkomplex zu bilden und die von mir gegeben Eckdaten noch mals kritisch zu überprüfen.

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