Es gibt in Deutschland zahlreiche Studien die eine Bildungsbenachteiligung aufgrund der Sozialen Herkunft nachweisen. Am bekanntesten sind die PISA-Studien. Viele dieser Untersuchungen bestätigen einfach nur, dass der Bildungserfolg mit der Sozialen Herkunft zusammenhängt. Inzwischen können wir zusätzlich auf Forschungen zurückgreifen, die uns genauer sagen, wo die Ursachen für die Bildungsbenachteiligung liegen.
Natürlich wird jede dieser Studien von konservativen Gruppierungen angezweifelt. Aber selbst wenn sie sich zu einer Anerkennung der Forschungsergebnisse durchringen, werden diese in einer Weise interpretiert, die eine Kritik an klassendiskriminierenden Zuständen abzuwehren versucht.
“Benachteiligung” als verharmlosender Begriff
Zu diesen Abwehrkämpfen gehört eine sehr weite Interpretation des Begriffs “Benachteiligung”. Als wir vor einigen Jahren in Münster das erste autonome Referat für studierende Arbeiterkinder einrichten wollten, und mit 50 anwesenden studierenden Arbeiterkindern dieses eindrücklich einforderten, wurde es uns zugestanden unter dem Titel “Referat für finanziell und kulturell benachteiligte Studierende”. Es war ein politischer Kompromiss. Während wir “Benachteiligung” als unzulässige Diskriminierung durch das Bildungssystem verstanden, interpretierten eher konservative Gruppierungen Benachteiligung in einer Weise, die als ein persönlicher Makel oder als ein Makel der Herkunftsfamilie bestenfalls Mitleid hervorrufen könnte.
Ähnlich verhielt es sich mit dem Artikel “Bildungsbenachteiligung in Deutschland” in Wikipedia. Während der Prozedur, in der dieser Artikel als “lesenswert” gekennzeichnet wurde, lief ein Löschantrag, weil “Bildungsbenachteiligung” kein enzyklopädischer, sondern ein wertender Begriff sei. Auch hier kam ein Kompromiss zustande, in dem Benachteiligung nicht als Diskriminierung gewertet wurde.
Mit dem Begriff der Benachteiligung können also diejenigen, die keine Kritik am Bildungssystem haben, gut leben. Ihre Argumentation: Man könne zwar statistisch eine Verteilung feststellen, die für Arbeiterkinder ungünstig ist. Aber
1) angeblich stehen die Eltern dem Schulerfolg ihrer Kinder im Weg
2) angeblich sind Arbeiterkinder nunmal aufgrund ihrer mangelnden Intelligenz auf der Hauptschule
3) und wenn die beiden Argumente entkräftet sind, dann muss es wohl in der Persönlichkeit der Nicht-Akademikerkinder begründet liegen, dass sie keinen Bildungserfolg erzielen: sie sind dann angeblich zu undiszipliniert, zu uninteressiert.
Benachteiligung als aktive und strukturelle Diskriminierung
Tatsächlich zeigen aber einige der neueren Studien, dass nicht nur eine Statistische Diskriminierung vorliegt. Sie können sehr genau benennen, dass und in welcher Form eine nicht akzeptable Diskriminierung stattfindet.
1) So zeigten Schulforschungsstudien wie die Hamburger LAU-Studie und die IGLU-Studien aus Dortmund, dass Eltern aus unteren Schichten sich an den Empfehlungen der LehrerInnen halten. Wenn die Lehrer die Kinder fürs Gymnasium empfehlen, stimmen sie in der Regel genauso zu, wie bei der Empfehlung für die Hauptschule. Es sind die Eltern aus den höheren Dienstklassen, die den Lehrerempfehlungen immer dann widersprechen, wenn diese nicht das Gymnasium empfehlen. Die weiter unten aufgeführte neue Studie vom WZB zeigt, dass auf Gymnasien vor allem Akademikerkinder oftmals überfordert sind (Overachievement). Es sind in erster Linie AkademikerInnen, die für ihre Kinder die falsche Schulform auswählen.
2) Die selben Studien (LAU, IGLU) unterstreichen, dass LehrerInnen SchülerInnen aus “unteren” Schichten auch dann seltener fürs Gymnasium empfehlen, wenn diese SchülerInnen intelligenter und belesener sind als ihre MitschülerInnen aus akademischen Elternhaus. Sie müssen bessere Noten erbringen als ihre MitschülerInnena aus reicheren Familien, wenn sie eine Gymnasialempfehlung erhalten wollen.
3) Bleibt also noch die Persönlichkeit. Vielleicht sind ja die Kinder aus nicht-akademischen Elternhäusern tatsächlich so intelligent wie die aus akademischen Elternhäusern. Aber, so argumentieren die Befürworter des dreigliedrigen Schulsystems, sind sie auch diszipliniert genug und sind sie neugierig genug? Ja, sagen Johannes Uhlig, Heike Solga und Jürgen Schupp, die die schulische Unterforderung (Underachievement) im Zusammenhang mit Sozialer Herkunft und Persönlichkeitsmerkmale untersuchten.
Welche Rolle spielen Underachievement und Persönlichkeitsstruktur für die Bildungsdiskriminierung?
Uhlig, Solga, Schupp konnten in ihrer Studie “Ungleiche Bildungschancen: Welche Rolle spielen Underachievement und Persönlichkeitsstruktur?” vom April 2009 zeigen,
“dass Kinder aus Familien, in denen kein Elternteil über ein abgeschlossenes Hochschulstudium verfügt, ein höheres Risiko eines Underachievement haben. Beim Zugang zu adäquater schulischer Bildung in Deutschland finden sich damit bedeutende soziale Ungleichheiten – und dies auch dann, wenn Kinder unterschiedlicher Herkunft vergleichbare Niveaus hinsichtlich ihrer kognitiven Lernpotenziale besitzen.”(ebd. 27)
Dies widerspreche der Forderung von Chancengleichheit – ein altbekanntes Ergebnis, welches keinerlei Effekte auf die Bildungspolitik hat. Spannender ist ihr Nachweis, dass Persönlichkeitsmerkmale wie Fleiß, Offenheit, Kooperation bei den Nicht-Akademikerkindern unter den “Underachievern” keine Auswirkungen auf die Frage haben, zu welcher Schulform sie zugelassen wurden:
“Es sind daher eher sekundäre Herkunftseffekte, die zu einem Underachievement führen. Vor allem die Entscheidungen von Lehrer/innen und Eltern und weniger die Leistungs- bzw. Notenunterschiede zwischen Kindern unterschiedlicher Schichtzugehörigkeit legen nach der Grundschule ihren weiteren Bildungsweg fest.”(ebd. 26)
Sie schränken hiermit auch Bourdieus Habitus-Theorie ein, derzufolge SchülerInnen aufgrund ihres “falschen Habitus” diskriminiert würden. Wobei hier zu berücksichtigen ist, dass die WissenschaftlerInnen 17jährige und 18jährige untersucht haben. Das heißt, dass der Habitus sich bereits in dem verfestigt haben könnte, was in der Studie als “fluide Intelligenz” gemessen worden ist.
Ihre Studie legt nahe, dass Kinder von Nicht-AkademikerInnen direkt aufgrund ihrer Sozialen Herkunft von den Lehrkräften benachteiligt werden. In ihrer Empfehlung auf Grundlage dieser Studie sprach sich das Forschungsteam daher dafür aus, “‘Entscheidungen’ über unterschiedliche Bildungswege und ungleiche Lernmilieus möglichst spät in der Bildungsbiografie erfolgen zu lassen.”(ebd. 28)
Es bleibt also dabei: Bildungsbenachteiligung heißt Diskriminierung: strukturelle Diskriminierung durch das Bildungssystem und personale Diskriminierung durch LehrerInnen und dem Standesdünkel reicherer Familien.
Anonym
du schreibst es selber, in der zitierten studie steht es auch noch einmal: diese, zumind. aber ähnliche ergebnisse liegen seit jahren vor. nun eine frage: was meinst du, wieso wird darauf nicht reagiert? könnte es sein, dass die deutsche politik einfach einen anderen weg als erfolgversprechend betrachtet? und dann daran anschließend: siehst du es als deine aufgabe an, deutscher politik ratschläge zu erteilen, welcher weg noch besser wäre für das nationale fortkommen?
dann noch eine frage: ist deine kritik, dass kinder, es sich eigentlich anders _verdient_ haben, nicht den aufstieg schaffen ("ungerecht")? und wenn ja, beschränkt sich deine kritik darauf? oder stellst du (in einem anderen beitrag vielleicht) die gesellschaftliche hierarchie als ganzes infrage, das sortieren in "underachiever" und "overachiever", oben und unten, herrschende und beherrschte, sieger und verlierer? oder ist deine kritik eben in der art beschränkt, dass eingefordert wird, dass nun endliche mal "gerecht" sotiert wird – also weder geschlecht, klasse noch "rasse"/herkunft als balast wirken. – eine solcherart gerechte sortierung setzt freilich voraus, dass überhaupt noch sotiert wird.
das kann man diesem beitrag hier nicht entnehmen.
gruß