Über Marx hinaus
“Über Marx hinaus” ist eine Anthologie der Herausgeber Marcel van der Linden und Karl Heinz Roth. In zwei Sektionen (“Arbeitsgeschichte – Die Evidenz der Empirie”, “Das Marxsche Konzept auf dem Prüfstand”) finden sich auf 600 Seiten zwanzig sehr lesenswerte Artikel, die sich mit der “Arbeitsgeschichte und [dem] Arbeitsbegriff in der Konfrontation mit den globalen Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts” befassen. Einige Artikel sind so spannend, dass ich gerne in diesem Blog näher auf sie eingehen möchte. Ich beginne mit einem Beitrag von Thomas Kuczynski.
“Was wird auf dem Arbeitsmarkt verkauft?”
Diese Frage stellt Thomas Kuczynski in seinem gleichnamigen Beitrag, welcher zuerst in einer Festschrift für Georg Fülberth erschien. Ich möchte den Inhalt dieses Beitrags mit zwei Thesen zusammenfassen. Die eine These ist, dass auf dem Arbeitsmarkt die ArbeiterInnen ihre Arbeitskraft nicht verkaufen, sondern vermieten. Thomas Kuczynski zieht hier aus didaktischen Gründen als geeignetes Vergleichsobjekt den Wohnungsmarkt heran. Entsprechend den Mietswohnungen, deren Nutzung nur vorübergehend anderen gewährt wird, wird die Arbeitskraft nicht an die Kapitaleigentümer verkauft, sondern nur vermietet. Würde sie verkauft werden, wäre sie für immer Eigentum des Käufers. Sie verbleibt aber laut Kuczynski bei den ArbeiterInnen. Der Kapitaleigentümer, der die Arbeitskraft nur mietet, zahlt für diese Miete die Kosten, die für die Reproduktion der Arbeitskraft aufgebracht werden müssen.
Die unterschiedliche Höhe der “Miete” erklärt Kuczynski mit unterschiedlichen Reproduktionskosten, womit wir zur zweiten These kommen: Der Arbeitslohn entspricht nicht nur der Reproduktion der individuellen Arbeitskraft, sondern auch der intergenerationellen Reproduktion der Arbeitskraft, also dem Erziehen von Kindern mit dem Ziel, die Arbeitskraft später zu ersetzen, zu reproduzieren. Diese Reproduktion ist sozialschichtspezifisch zu betrachten. Ein Akademikerkind verursacht mehr Kosten als ein Fabrikarbeiterkind bis es den Platz seiner Eltern einnehmen kann. Daher ist der Lohn (die Miete der Arbeitskraft) eines Akademikers entsprechend höher als der Lohn eines Fabrikarbeiters. Im Lohn sind die Kosten für die Sozialisation der Kinder enthalten, die die Arbeitskraft ihrer Eltern ersetzen sollen.
Im Folgenden werde ich auf beide Thesen näher eingehen.
Wird Arbeitskraft verkauft oder vermietet?
Die These, dass die Arbeitskraft nur vermietet wird, ist plausibel. Aber dennoch erhebe ich hier Widerspruch. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass meine Arbeitskraft nach ein paar Stunden Arbeit nachläßt. Wenn ich zehn oder zwölf Stunden am Stück gearbeitet habe, bin ich so fertig, dass von Arbeits”kraft” kaum noch etwas da ist. Sie ist tatsächlich weg, die Müdigkeit nimmt zu und die Konzentrationsfähigkeit ab. Kuczynski hebt hervor, dass Marx zunächst von “Arbeitsvermögen” und später zunehmend von “Arbeitskraft” sprach. Aufgrund des Energie-Dispositivs des 19. Jahrhunderts hat sich Marx wahrscheinlich Arbeitskraft als Energie-Quantum vorgestellt (Energeia: wirkende Kraft), die umgewandelt, verausgabt wird und damit weg ist. Der Fabrikarbeiter / die Fabrikarbeiterin ist nach mehreren Stunden Arbeit kraftlos. Hier bietet sich an, zwischen Akt und Potenz zu unterscheiden. Das Arbeitsvermögen bleibt, es wird vermietet und muss nach dem Nutzen reproduziert werden, indem die verausgabte Arbeitskraft neu produziert wird. Mein Vorschlag ist hier davon zu sprechen, dass ein spezifisches Arbeitsvermögen vermietet, die Arbeitskraft hingegen verkauft wird.
Klassenreproduktion bei Marx
Spannender noch als die Frage, ob Arbeitskraft vermietet oder verkauft wird, ist die zweite These: Der unterschiedliche Lohn ergibt sich aus dem Auftrag, über die Sozialisation der eigenen Kinder die Arbeitskraft zu reproduzieren. Neben der Aufteilung der Menschen in die proletarische Klasse derjenigen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen und der Klasse derjenigen, die über Kapital an Produktionsmitteln verfügen, wird ein weiterer “klassenähnlicher” Begriff eingeführt. Kuczynski bietet an, von “sozialer Schicht” zu sprechen. Tatsächlich benutzt Marx an den entsprechenden Stellen aber den Terminus “Race”:
“Der Eigentümer der Arbeitskraft ist sterblich. Soll also seine Erscheinung auf dem Markt eine kontinuierliche sein, wie die kontinuierliche Verwandlung von Geld in Kapital voraussetzt, so muß der Verkäufer der Arbeitskraft sich verewigen, ‘wie jedes lebendige Individuum sich verewigt, durch Fortpflanzung’. Die durch Abnutzung und Tod dem Markt entzogene Arbeitskräfte müssen zum allermindesten durch eine gleiche Zahl neuer Arbeitskräfte beständig ersetzt werden. Die Summe der zur Produktion der Arbeitskraft notwendigen Lebensmittel schließt also die Lebensmittel der Ersatzmänner ein, d.h. der Kinder der Arbeiter, so daß sich diese Race eigentümlicher Warenbesitzer auf dem Warenmarkte verewigt.” (MEW 23, S. 187)
Während hier nur von den Lebensmitteln für die Kinder der Arbeiter gesprochen wird und weder “Arbeiter” differenziert wird (sind mit “Arbeiter” nur FabrikarbeiterInnen gemeint oder auch beispielsweise LehrerInnen?) noch von Bildungskosten die Rede ist, zieht Kuczynski zwei weitere Zitate aus dem Kommunistischen Manifest heran, um seine These zu belegen, dass der unterschiedliche Lohn sich aus dem Auftrag der sozialen Vererbung des Arbeitsvermögen ergebe:
“Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Schau betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Artz, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt.” (MEW 4, S. 465)
Gegenüber diesen Lohnarbeitern benötigt der Fabrikarbeiter, die Fabrikarbeiterin, kaum Kosten:
Der Arbeiter “wird ein blßes Zubehör der Maschine, von dem nur der einfachste, eintönigste, am leichtesten erlernbare Handgriff verlangt wird. Die Kosten, die der Arbeiter verursacht, beschränken sich daher fast nur auf die Lebensmittel, die er zu seinem Unterhalt und zur Fortpflanzung seiner Race bedarf.” (MEW 4, S. 469)
Mit dem Lohn wird die Sozialisation der Kinder der ArbeiterInnen mitbezahlt – da diese unterschiedlich ist, ist auch der Lohn unterschiedlich hoch. “Gerade bei der Reproduktion der höher qualifizierten Arbeitskräfte, der Intellektuellen, Manager usw. spielt die gesamte Sozialisation der Heranwachsenden eine große Rolle. Die aber kostet durchaus, ebenso das kulturelle Umfeld usw.” (Kuczynski 376) Kuczynski interpretiert Marx nun in der Weise, dass der Unternehmer nicht nur die unmittelbare, sondern auch die mittelbare Reproduktion des Arbeitsvermögens seiner Arbeiter bezahlt:
“Obgleich also das Arbeitsvermögen, sofern es zur Wirkung gelangt, einerseits unmittelbar, nämlich während des Produktionsprozesses und im produzierenden Individuum selbst reproduziert wird, bedarf es andererseits zu siner ‘Verewigung’ ebenso der Reproduktion außerhalb des unmittelbaren Produktionsprozesses. Die für diese – nicht mehr auf das Individuum, sondern auf seine soziale Schicht bezogene – Reproduktion notwendige Arbeitszeit bestimmt zu einem beträchtlichen Teil den Reproduktionswert der Ware Arbeitskraft.” (Kuczynski 376f.)
Zuständigkeit für die mittelbare Reproduktion: Staat oder Familie?
Nach Louis Althusser ist der Staat mit seinen Ideologischen Staatsapparaten (ISA) für die mittelbare Reproduktion der Arbeitskraft zuständig. Ideologische Staatsapparate wie die Kirche und vor allem die Schule garantieren, dass dem Arbeitsmarkt immer die angeforderten Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Kuczynski sieht diese Aufgabe hingegen stärker bei den Familien. Wahrscheinlich würde Althusser ebenso zugestehen, dass der Familie eine Reproduktionsaufgabe zukommt, wie Kuczynski dies für (Aus-)Bildungsinstitutionen einräumt. Aber hier scheint eine unterschiedliche Wertung vorzuliegen, wer hauptsächlich für die mittelbare Reproduktion der Arbeitskraft zuständig ist. Gekoppelt an diese Frage ist die Beurteilung, ob dem Kapitalismus eine quasi ständische Reproduktion inhärent ist oder ob der Kapitalismus sich prinzipiell neutral zur sozialen Herkunft verhält.
Die Zitate von Karl Marx, die Kuczynski heranführt, in denen er von der “Verewigung” und “Fortpflanzung” der “Race” der FabrikarbeiterInnen spricht, scheinen es zu legitimieren, von einem dem Kapitalismus notwendig inhärenten “Klassenrassismus” (Pierre Bourdieu) zu sprechen. Das Elterngeld, welches wohlhabende Eltern gegenüber arme Eltern bevorteilt, scheint dann tatsächlich eher mit dem Kapitalismus konform zu gehen, statt ihm zu widersprechen. Der Kapitalismus verhält sich dann auch nicht neutral und beurteilt Menschen einfach nur nach ihren Leistungen, sondern basiert auf den Bahnen der sozialen Vererbung und gesteht nur in Ausnahmefällen “Bildungsaufstiege” zu. Ob dem aber wirklich so ist, dies wäre weiterhin zu überprüfen und zu diskutieren.
Nachtrag
Die Frage, ob die Bevorteilung von Kinder reicher Eltern systemimmanent ist, ist sehr aktuell, da ständig neue Privilegierungen eingefordert werden. Zum Beispiel auch von den Privaten Krankenkassen.
Literatur:
Thomas Kuczynski: Was wird auf dem Arbeitsmarkt verkauft?, in: Marcel van der Linden / Karl Heinz Roth (Hg.): Über Marx hinaus. Arbeitsgeschichte und Arbeitsbegriff in der Konfrontation mit den globalen Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts, Berlin/Hamburg 2009: Assoziation A, S. 363 – 378
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