Homophobie und Antisemitismus nehmen zu

Deutsche Zustände
Gestern wurden während der Pressekonferenz in Berlin die neuen Ergebnisse der Langzeitstudie zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit vorgestellt. Diese Studie ist auf zehn Jahre angelegt, jedes Jahr werden zweitausend Menschen Sätze vorgelegt, denen sie zustimmen oder die sie ablehnen können. Es werden mit dieser Studie gruppenbezogene Vorurteile untersucht. Die Forschergruppen aus Bielefeld und Marburg verfolgen die These, dass diese einzelnen Vorurteile als ein „Syndrom der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ aufgefasst werden können, das heißt, dass diejenigen, die ausländerfeindlich sind, meistens auch zu Sexismus und Behindertenfeindlichkeit neigen. Die Ergebnisse werden in der Suhrkamp-Reihe „Deutsche Zustände“ zusammengefasst, wobei der gestern vorgestellte achte Band die Wirtschaftskrise und deren Folgen für die Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in den Fokus nimmt.


Ergebnisse

Zwei Ergebnisse wurden während der Pressekonferenz betont:
1. eine Zunahme von Homophobie und Antisemistismus bei gleichzeitigem allgemeinen Rückgang der gruppenbezogenen Abwertungen
2. eine Ablehnung von Gleichberechtigung und Schutz von schwachen Gruppen, die gekoppelt an Abstiegsängsten in Krisenzeiten ist.

Homophobie und Antisemitismus nehmen zu
Im Vergleich zu 2008 stellen sich drei Tendenzen dar:

* Deutlich sinken Fremdenfeindlichkeit, Etabliertenvorrechten, Sexismus und Rassismus
* Leicht sinken Islamfeindlichkeit, Behindertenfeindlichkeit, Obdachlosenfeindlichkeit und die Abwertung von Langzeitarbeitslosen
* Gestiegen sind die Abwertung von Schwulen und Lesben und der Antisemitismus

Darüberhinaus konnte festgestellt werden, dass diejenigen, die Banker für die Wirtschaftskrise verantwortlich machen, stärker zu Homophobie und Antisemitismus neigen als diejenigen, die das Wirtschaftssystem für die Krise in die Verantwortung nehmen.
Die bekannte These, dass die verkürzte Kapitalismuskritik zu Antisemitismus führe, weil Banker mit Juden gleichgesetzt werden, scheint sich durch diese empirische Untersuchung zu bestätigen: es trifft vor allem die als „statushoch“ wahrgenommenen Gruppen.
Interessant sind in diesem Zusammenhang kritische Betrachtungen von Männlichkeit und Arbeit, wie sie George L. Mosse in dem Band „Das Bild des Mannes“ skizziert. 1914 war der Hurrapatriotismus gekoppelt an einer „Befreiung“ von Dekadenz und Degeneration, die in der Homosexualität und dem Judentum gefunden wurde.

Zunehmende Ablehnung von Solidarität
Gefragt nach den Auswirkungen der Krise kam die Forschergruppe zu folgenden Zahlen:
– 92 % fürchten, es würde in Zukunft mehr soziale Abstiege geben.
– 94 % erwarten mehr Armut.
– 75 % der Befragten erwarten, dass die Bedrohung des Lebensstandards die Solidarität mit Schwachen verringert,
– 59 % sehen in Krisenzeiten weniger Chancen auf Gerechtigkeit und
– 62 % meinen, in Krisenzeiten könne man nicht mit Fairness druch andere rechnen.
– 32 % meinen, in der Wirtschaftskrise können wir uns nicht leisten, dass alle Menschen gleiche Rechte haben.
– 20 % meinen, wir können es uns in der Krise nicht mehr erlauben, Minderheiten besonders zu achten und zu schützen.
– 61 % meinen, in Deutschland müssen zu viele schwache Gruppen mitversorgt werden.
Wilhelm Heitmeyer und Andreas Zick erwarten eine Zunahme der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, wenn die Wirtschaftkrise weiter zunehme und sich entsprechend in eine Gesellschaftskrise transformiert.

Differenziertes Syndrom der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit
2008 konnte noch von einem einheitlichen Syndrom Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit gesprochen werden. Inzwischen sind einige Differenzierungen möglich.
Bereits 2008 wurde festgestellt, dass die drei gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeiten Obdachlosen- und Langzeitlosenabwertung sowie Behindertenfeindlichkeit einer eigenen Logik folgen. Wilhelm Heitmeyer sah die Abwertung dieser Gruppen gekoppelt an einem zunehmenden Nütlichkeitsdenken, in dem Menschen nach ihrem Wert im ökonomischen System betrachtet würden. Heitmeyer kritisierte, dass die Marktwirtschaft sich zu einer Marktgesellschaft verändert habe, in der die Verwertungslogik zunehmend den Alltag durchdringe.
Während der europäischen Studie zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, die ebenfalls in diesem Jahr vorgestellt wurde, konnten die Ergebnisse zur Behinderten- und Obdachlosenfeindlichkeit nicht mehr in das gemeinsame Syndrom integriert werden (die Langzeitlosenabwertung wurde leider nicht untersucht). Dies lässt darauf schließen, dass es sich tatsächlich um eine nur leicht verwandte Form von Diskriminierung handelt. Auch in der jetzigen Studie bildet die Abwertung dieser Gruppen eine Einheit, da sie weder zugelegt haben, noch deutlich gesunken sind wie Rassismus und Sexismus.
In der aktuellen Studie wurde nun die zunehmende Diskriminierung der sogenannten „statushohen“ Gruppen herausgestellt, die sich also anders gestalte als die anderen Abwertungen.

Lassen sich hiermit drei verschiedene Formen von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit feststellen:

* Abwertung aufgrund von Rassismus und Sexismus
* Abwertung aufgrund eines ökonomischen Nützlichkeitsdenken (Sozialeugenik): Behindertenfeindlichkeit, Abwertung von Obdachlosen und Arbeitslosen
* Abwertung von vermeintlich statushohen Gruppen (Dekadenz-Vorwurf): Homophobie und Antisemitismus

Sollte es sich tatsächlich um drei zu differenzierende Vorurteilsdynamiken handeln, so sind sie alle gleichzeitig ernst zu nehmen. In der heutigen Tageszeitung lautete der Kommentar eines Journalisten: „Dummer Hass nach oben“. Wie die Kommentare zu diesem Beitrag zeigen, wird auf den festgestellten Antisemitismus und der Homophobie gleich eine schuldige Gruppe gefunden: die Unterschicht und der Islam.

1 Kommentar

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  1. henteaser

    Trifft der Stammtisch-Dekadenzvorwurf nicht auch heterosexuelle deutsche Banker, Stars und Politiker? Denn wenn da nur homosexuellen- und judenfeindliche Aussagesätze vorgelegt werden, verzerrt das die Statistik natürlich in Richtung dieser Sonderfälle.

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