Ich melde mich bei Ihnen, weil aktuell u.a. über Artikel in Telepolis und jetzt in der Süddeutschen Ihre “Didaktischen Empfehlungen” zum Bereich Bildungshintergrund massiv kritisiert werden, vor allem auch von akademischen Nicht-Akademiker*innenkindern.
Hierzu möchte ich zunächst sagen, dass ich mit den Artikeln nicht übereinstimme. Es gibt tatsächlich viele Probleme zwischen Studierenden mit einer sogenannten “niedrigen” sozialen Herkunft und der “Hoch”schule (diese “ab”- und “auf”wertenden Vertikalismen sind bereits diskrimnierende Denkmuster). Und sehr viel von dem, was Sie beenden möchten, wurde lange Zeit zurecht als “Uni-Bluff” bezeichnet, der sich gegen Arbeiter*innenkinder mit geringerer Uni-Bluff-Kompetenz richtete.
Dennoch stimme ich den Artikeln insoweit zu, als mit den Didaktischen Empfehlungen Arbeiter*innenkinder als defizitär dargestellt werden und die Gefahr der Stigmatisierung besteht.
In Münster war das Referat für studierende Arbeiter*innenkinder ähnlichen Vorwürfen ausgesetzt. Es gibt aber einen großen Unterschied. Ihre Empfehlungen haben Sie zusammen mit Katja Urbatsch, der Gründerin und Geschäftsführerin von Arbeiterkind.de erarbeitet. Arbeiterkind.de ist ein Unternehmen mit einer hierarchischen Struktur. Konstituierend für Arbeiterkind.de ist der Ausschluss von bildungspolitischen Diskussionen und Forderungen. Das Geschäftsmodell basiert auf dieser Politik-Abstinenz, diese ist relevant dafür, dass Mainstream-Medien über Arbeiterkind.de berichten und vor allem für die finanzielle Unterstützung vor allem über Preise aus unternehmensnahen Stiftungen. Arbeiterkind.de repräsentiert nicht Arbeiter*innenkinder.
Die einzige demokratisch legitimierte Repräsentanz von studierenden Arbeiter*innenkindern ist (bislang) das autonome Referat in Münster. Das autonome Referat ist entsprechend der anderen autonomen Antidiskriminierungs-Referate aufgebaut: Während einer jährlich stattfindenen Vollversammlung besprechen die studierenden Arbeiter*innenkinder Probleme an der Uni, die Referent*innen stellen die Arbeit ihres letzten Jahres vor und die neuen Referent*innen werden gewählt. Diese sind mit Ressourcen des AStA ausgestattet, um im Interesse der studierenden Arbeiter*innenkinder Bildungspolitik zu machen. Dieses Referat feiert gerade sein zehnjähriges Bestehen. Es ist allerdings im Gegensatz zu Arbeiterkind.de unbekannt. Da inzwischen 15 bis 20 verschiedene Referent*innen mit weit über einhundert Veranstaltungen und entsprechenden Pressemitteilungen des AStA an die Öffentlichkeit gegangen sind, kann es nicht an einer vermeintlichen Inkompetenz der gewählten Referent*innen liegen, dass das Referat im Gegensatz zu Arbeiterkind.de unbekannt blieb. Hier liegen Ausschlussmechanismen vor, die mit der bildungspolitischen Selbstorganisierung zu tun haben.
Ein konstruktiver Umgang mit der derzeitigen Kritik, zu der ich wie gesagt ambivalent stehe, besteht darin, dass Arbeiter*innenkinder eine Sprecher*innenposition erhalten. Arbeiterkind.de wird diese Position oft zugeschoben, was fatal ist aufgrund der fehlenden basisdemokratischen Struktur und dem politischen “Maulkorb” bei Arbeiterkind.de. Eine offene Diskussion über die Habitus-Struktur-Konflikte oder Diskriminierungserfahrungen findet nicht statt und ist auch nicht gewollt.
Was notwendig ist – gerade vor dem Hintergrund der gerade veröffentlichten 20. Sozialerhebung, die unterstreicht, dass sich die Situation von Studierenden mit einer “niedrigen Bildungsherkunft” nicht verbessert -, ist die Selbstorganisierung von studierenden Arbeiter*innenkindern. Diese können dann formulieren, wo sie die Probleme im Bildungsbereich sehen. Und das Projekt “Diversität und Lehre” hätte dann eine substanziellere Grundlage für die Formulierung von didaktischen Empfehlungen.
Mit freundlichen Grüßen
Andreas Kemper
Bisherige Beiträge zur Debatte um Didaktische Empfehlungen:
-
Gruppe Diversität und Lehre (FU Berlin): Didaktische Empfehlungen http://www.fu-berlin.de/sites/diversitaet-und-lehre/didaktische_empfehlungen/index.html
-
Peter Riedlberger: Wie man als Dozent Arbeiterkinder behandeln solle, Telepolis 27.06.2013 http://www.heise.de/tp/artikel/39/39400/1.html
-
Johanna Bruckner: Nicht-Akademiker-Kinder, die unbekannten Wesen. FU Berlin: Arbeiterkinder stellen keine dummen Fragen, SZ vom 27.6.2013 http://www.sueddeutsche.de/bildung/fu-berlin-nicht-akademiker-kinder-die-unbekannten-wesen-1.1707041
- die Kaltmamsel: Als Arbeiterkind an der Uni, Blog Vorspeisenplatte 28.6.2013 http://www.vorspeisenplatte.de/speisen/2013/06/als-arbeiterkind-an-der-uni.htm
-
Peter Riedlberger: Wovon Arbeiterkinder wirklich profitieren würden, Telepolis 2.7.2013 http://www.heise.de/tp/artikel/39/39418/1.html
-
Stephan Schleim: Wie sich ein Akademiker ein ungerechtes System zurechtbiegt Telepolis 4.7.2013 http://www.heise.de/tp/artikel/39/39445/1.html
-
Andreas Kemper: Offener Brief an „Diversity und Lehre“ der FU Berlin, Blog Andreas Kemper 7.7.2013 http://andreaskemper.org/2013/07/07/offener-brief-an-die-gruppe-diversity-und-lehre-der-fu-berlin/