In den 2020er Jahren ist der Begriff “Klassismus” im deutschen Sprachgebrauch deutlich gebräuchlicher geworden.
Dies hat mit Aktivitäten gegen die Diskriminierung aufgrund des sozialen Status, also mit Aktivitäten gegen Klassismus zu tun. Magazine und Organisationen gegen Rassismus oder gegen Sexismus oder allgemein gegen Diskriminierung wie die Antidiskriminierungsstelle des Bundes thematisierten zunehmend Klassismus unter Verwendung dieses Begriffs. Klassismus ist Thema an Hochschulen, in Kongressen und von Artikeln, Buchpublikationen und Vorträgen. Inzwischen haben sich Workshops und Trainings gegen Klassismus etabliert. Und erstmals ist in diesem Jahr mit dem Landesantidiskriminierungsgesetz Berlin “Diskriminierung aufgrund des sozialen Status” verboten worden.
Zudem ist ein informelles Bündnis gegen Klassismus entstanden: In der Antiklassistischen Assoziation sind vor allem Vertreter*innen aktiv, die an verschiedenen Hochschulen von Studierenden mit sogenannter “niedriger” sozialer Herkunft gewählt werden, um Bildungsbenachteiligung zu bekämpfen. In einer Solidaritätsadresse unterstützte die Antiklassistische Aktion die Kampagne #hartzfacts des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und des Vereins Sanktionsfrei e.V..

Der Deutschlandfunk sendete gestern den Beitrag Klassismus. Die übersehene Diskriminierungsform von Houssam Hamade. Zum einen zeigt dieser Beitrag, dass der Begriff Klassismus in den Medien angekommen ist, zum anderen macht er aber auch deutlich, dass Klassismus trotzdem noch viel zu häufig übersehen wird. Wichtig an diesem Beitrag ist der Schlusssatz: “Dabei sollten wir nicht vergessen, dass Armut und Ungleichheit die Hauptursache von Klassismus sind, nicht falsche Einstellungen einzelner Menschen.” Es geht also nicht nur um Vorurteile, sondern es geht auch um gesellschaftliche Strukturen. Fängt man allerdings an, klassistische Strukturen zu bekämpfen, wird man schnell feststellen, dass diese Strukturen nicht vom Himmel gefallen sind oder – kollektivsymbolisch passender – aus der Hölle entstanden.
Es gibt Organisationen und Netzwerke, die ein Interesse an klassistischen Strukturen und klassistischer Sprache haben. Diskriminierung ist die Kehrseite von Privilegierung. Erinnert sei an Bertolt Brecht.

In einer Sendung des Deutschlandfunks von 2013 wurde dieses Thema mit dem Elitenforscher Michael Hartmann und dem Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel diskutiert. Klassistische Strukturen wurden und werden mit Ideologie und Machtnetzwerken durchgesetzt. Hierauf weist aktuell Thomas Piketty mit seinem Buch 1300seitigen Kapital und Ideologie hin (eine Zusammenfassung hat die Arbeiterkammer Österreich zusammengestellt; in aller Kürze hier gerne nochmal Deutschlandfunk). Piketty fordert einen “partizipativen Sozialismus”. “Partizipativ” meint “beteiligt”, “teilnehmend”. Eigentlich eine urdemokratische Forderung, doch Arme sind in den letzten 50 Jahren immer weniger partizipativ (gemacht) geworden, nicht nur in den Wahlen. Piketty fordert unter anderem Bildungsgerechtigkeit und ein Erbe für alle, einfach weil es gerecht ist, aber auch, um Partizipation, um Demokratie zu ermöglichen. Ob 120.000 Euro Erbe für alle am 25. Geburtstag ausreicht, kann diskutiert werden, es wäre nur ein Viertel von dem, was im Schnitt in Deutschland geerbt wird. Aber allein diese Forderung wird die Klassist*innen kenntlich machen, die sich ideologisch mit allen Registern einer Ideologie in Stellung bringen werden, die ich unter dem Begriff “Erbkonservatismus” zu fassen versuche.

Apropos gute Begriffe: Auch dies ist ein Problem. Inzwischen setzt sich der Begriff “Klassismus” durch. Aber wie nennen wir konkreter die Strömungen und Ideologien klassistischer Netzwerke?
“Erbkonservatismus” wäre eine Möglichkeit, mit diesem Begriff soll nicht nur die Verteidigung ungleicher Erben benannt werden, sondern auch die Biologisierung dieser ungleichen ökonomischen Verhältnisse und Prozesse durch im Kern sozialeugenische / rassenhygienische Behauptungen klassenspezifischer Erbintelligenzen. Aggressiver noch wird diese Ideologie des Erbkonservatismus, wenn sie sich ernsthaft angegriffen fühlt von der von Piketty geforderten Partizipation im Sinne eines partizipativen Sozialismus.
Piketty spricht von “proprietaristischen Gesellschaften” (“proprietär”: in Besitz) in der Geschichte. Wir kennen die “manchesterkapitalistische” proprietaristische Gesellschaft durch Jane Austins Stolz und Vorurteil aus der Sicht der Wohlhabenden. Wir kennen die Lage der arbeitenden Klasse dieser proprietaristischen Gesellschaften durch Darstellungen von Marx und Engels oder von Edward Thompson in seinem Werk The Making of the English Working Class (ins Deutsche übersetzt unter dem Titel Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, was gerade das Spannende, nämlich die Herstellung / Making unterschlägt). Piketty verweist unter Hinweis auf die Geschichte auf ideologische Netzwerke, die nur durch gesellschaftliche Kräfteverhältnis daran gehindert werden, ihren Neoproprietarismus wieder durchzusetzen.
Diese Ideologien beschreiben sich selber als ”liberal”, als “neoliberal” oder in der verschärften Variante als “libertär” oder “anarcho-kapitalistisch”. Sie haben allerdings aus der Sicht der Armen mit Freiheit nicht viel zu tun. Wenn etwa Tomasz Froelich, der Büroleiter vom AfD-Chef Meuthen die Forderung nach Abschaffung aller staatlichen Schulen mit dem Hinweis verteidigt, nicht jeder müsse zur Schule gehen, dann ist dies eben keine Freiheit, sondern ein Verbot am Unterricht teilnehmen zu dürfen; wenn Markus Krall, Hauptgeschäftsführer von Degussa Goldhandel fordert, dass nur Wahlrecht haben solle, wer kein Geld vom Staat erhält, dann ist dies ein Verbot an Wahlen teilzunehmen für alle, die auf staatliche finanzielle Unterstützung angewiesen sind. Leider ist der Begriff “Neoproprietarismus” für diese Ideologien ein wenig sperrig. Wir könnten von “Propietismus” sprechen oder von “Privarismus” (von “privare” (rauben)).
Letztlich ist es zweitrangig, wie wir die ideologische Strömung dieser Machtnetzwerke nennen. Wichtiger ist zu erkennen, dass Klassismus gemacht wird, es ist ein ständiges “Making of”. Und so wie wir bei Rassismus und Sexismus auch von “Rassist*innen” und “Sexist*innen” sprechen, so müssen wir auch klar haben, dass Klassismus nicht ^”vom Himmel fällt” oder ^”aus der Hölle entsteht”, sondern ständig auch von profitierenden Menschen gemacht wird: von Klassist*innen und deren Netzwerken innerhalb des Äthers unserer kapitalistischen Ökonomie.
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