Armutsvererbung

Es gibt Begriffe, die mit einer eingängigen Bilderproduktion einen Sachverhalt verfälschen. Und es gibt Begriffe, die dies sogar mit einer nicht-vorstellbaren Bilderproduktion schaffen. Zu diesen Begriffen zählt “Armutsvererbung”. Armut ist ja bekanntlich nicht Vermögen, sondern das relative oder absolute Fehlen von Vermögen. So besitzt die ärmere Hälfte der Bevölkerung in Deutschland im Durchschnitt nichts. Entsprechend werden sie nichts vererben. Wie bitte vererbt man den Mangel an Vermögen? Mit einem gesunden Menschenverstand behaftet fühlt man sich verarscht, wenn man jemanden fragt, ob er etwas geerbt hat und dieser dann antwortet: ja, ich habe geerbt und zwar nichts.

Falls jemand intervenieren möchte mit dem Einwurf: “Armut ist doch nicht nur Armut am materiellen Besitz, es gibt doch auch z.B. Bildungsarmut” gebe ich zurück: wie vererbt man Bildung, die man nicht hat? Wie vererbt man einen “legitimen Geschmack”, den man nicht hat? Wie vererbt man den Mangel an karrierefördernde Beziehungen?

Leider ist der Begriff “Armutsvererbung” kein platter Scherz von Grundschülern, sondern ein offizieller Begriff der EU. Auf der Website zum 700-Millionen-Projekt PROGRESS der EU fand sich als eine Zielvorgabe, “den Teufelskreislauf der Armutsvererbung von einer Generation zur nächsten zu durchbrechen”. Hierüber stolperte ich, als ich einen Artikel über Diskriminierungshierarchie schrieb. In der EU sind entsprechend der Menschenrechts-Charta 13 Diskriminierungsformen verboten. Aber nur für 6 Diskriminierungsformen finden sich gesetzliche Regelungen. Unser Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (in Deutschland redet man nicht über Diskriminierung – man macht sie) beispielsweise hat nur diese sechs Diskriminierungsformen geregelt, ähnlich wie die Antidiskriminierungsgesetze in den anderen europäischen Ländern. Zu Diskriminierungen aufgrund von Soziale Herkunft, Genetische Merkmale, Sprache, Politische oder sonstige Anschauung, Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, Vermögen und Geburt gibt es bislang noch keine rechtlichen Regelungen. Es fehlen aber nicht nur entsprechende Gesetze, sondern auch die empirische Diskriminierungsforschung blendet diese Diskriminierungsformen per Definition aus. In diesem von 2007 bis 2013 bestehenden Projekt PROGRESS werden auch Gelder für Diskriminierungsforschung vergeben. Dort stieß ich auf die entsprechende Formulierung “den Teufelskreislauf der Armutsvererbung durchbrechen”.

Diese Falschformulierung folgt der administrativen Logik der EU. Wenn sich Diskriminierung auf die sechs gesetzlich geregelten Diskriminierungen beschränkt, dann kann eine Benachteiligung aufgrund der Sozialen Herkunft keine Diskriminierung sein. Verantwortlich für diese Benachteiligung wären dann nur irgendwelche dubiosen “Teufels”kreisläufe. Wenn vom “Teufel” die Rede ist, sollte man hellhörig werden. Ernst Bloch machte zurecht darauf aufmerksam, dass ein dem A-theismus entsprechender “A-satanismus” aufklärerisch noch austehe: Es gibt keinen Teufel, das “Böse” ist gesellschaftlich bedingt.
Übrigens ein weiteres nicht-denkbares Bild: wie kann eine Vererbung ein Kreislauf sein? Ein Kreislauf ist: Wasser verdunstet aus dem Meer, die Wolken ziehen über das Land, regnen und die Flüsse tragen das Wasser zurück ins Meer. Armutsvererbung heißt: die Eltern sterben und die Kinder erben, nämlich nichts. Wo ist der Kreislauf???
Würde man die EU-Charta Artikel 21, Absatz 1 ernst nehmen könnte man sagen: Niemand darf aufgrund seiner sozialen Herkunft diskriminiert werden. Ein eingängiger und nachvollziehbarer Satz ohne “Vererbung von nix”, ohne “Verkreislaufung eines Vektors” und ohne Teufel.

Hinter der nicht-denkbaren Formulierung “den Teufelskreislauf der Armutsvererbung durchbrechen” steckt ein kulturalistischer Armutsbegriff. Es ist die verschnörkelte Formulierung dessen, womit Popoulisten wie Missfelder es in die Schlagzeilen der Boulevardblätter schaffen: wenn man HartzIV-Sätze erhöht, würden nur die Tabak- und Schnapsindustrie gefördert. Armut wird als eine Kultur verstanden, als ein Lebensprinzip, eine “unter-bürgerliches Kultur” (Paul Nolte), eine Verwahrlosungskultur aufgrund der Alimentierung durch den Sozialstaat. Empirisch haltbar ist dieser Ansatz natürlich nicht. Wir wissen über eine Vielzahl von Studien, dass es in Deutschland keine “Vererbung von Bildungsarmut” gibt, sondern dass das Bildungssystem in Deutschland hinsichtlich der Sozialen Herkunft extrem diskriminierend ist. Soeben höre ich im Radio, dass in NRW wieder 14.600 SchülerInnen keinen Platz in einer Gesamtschule fanden, weil die Regierung die Etablierung von Gesamtschulen aus politischen Gründen verhindere.

Es ist bedenklich, wenn in der EU und durch die EU die Wahrnehmung von Diskriminierung auf sechs Diskriminierungsformen reduziert wird. Vor allem dann, wenn hierdurch andere Diskriminierungen kulturalistisch umgedeutet werden. Aus dem Blick fallen dann die strukturellen Diskriminierungen und die Täter-Verantwortlichkeiten. Aus dem Blick fällt in diesem Fall die Reichtumsvererbung. Diese gibt es im Gegensatz zur Armutsvererbung tatsächlich. Allein in Deutschland wechseln in diesen Jahren mehrere Billionen Euro die Generationen. Hier könnte man wirksam ansetzen. Allerdings nur innerhalb der reicheren Hälfte der Bevölkerung. Die ärmere Hälfte besitzt wie gesagt nichts mehr und die Vererbung von nichts als Kreislauf zu durchbrechen, obwohl hier der Teufel seine Finger im Spiel hat, ist nunmal eine nicht zu überbietende Absurdität. Und ich möchte nicht wissen, wieviel zig-Millionen Euro die EU sich dies kosten läßt.

1 Kommentar

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  1. Hans Wurst

    Herrlich wortreich nichts gesagt, Herr Kemper. Statt sich mit der Problemstellung an sich zu befassen (die man mit etwas weniger Sturheit problemlos aus der EU-Formulierung entnehmen könnte, wenn man denn nur wollte), hängen Sie sich zeilenlang an einer einzigen, zum Akademikum hochstilisierten Phrase auf. Als gäb's nicht Elend genug.

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