Die Forderung nach Volksabstimmung ^auf Bundesebene^ kommt zur falschen Zeit.
- Die soziale Wahlbeteiligungsschere ist von 1972 bis 2009 von 5 auf 19 Prozentpunkte angewachsen. Hatten 1972 von den 20% der ^oberen Schicht^ eine Wahlbeteiligung von 97% und die ^untere Schicht^ von 92%, so beträgt die Bundestags-Wahlbeteiligung der ^oberen Schicht^ 2009 95%, die der ^unteren Schicht^ allerdings nur noch 76%. Petersen, Thomas / Hierlemann, Dominik/ Vehrkamp, Robert B./ Wratil, Christopher (2013): Gespaltene Demokratie. Politische Partizipation und Demokratiezufriedenheit vor der Bundestagswahl 2013. Eine gemeinsame Studie vom Institut für Demoskopie Allensbach und der Bertelsmann-Stiftung, URL: (http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-4AF9E0E7-44C2AFAC/bst/xcms_bst_dms_37989_37990_2.pdf)
- Während diese Sozialselektivität ^auf Bundesebene^ bereits problematisch ist, wo relativ ^hohe^ Wahlbeteiligungen sind, schlägt die Sozialselektivität bei geringen Wahlbeteiligungen noch sehr viel mehr durch, gibt Thomas Schäfer vom Max-Planck-Institut für Demokratieforschung zu bedenken. (Schäfer, Armin (2009): Wer geht wählen? Die soziale Schieflage einer niedrigen Wahlbeteiligung, in: Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln, September 2009 URL: http://www.mpifg.de/aktuelles/themen/doks/Schaefer_Wahlbeteiligung_in_Koeln_Sept09.pdf; Schäfer, Armin (2010): Politische Parallelwelten. Wo die Nichtwähler wohnen, in: Hans-Böckler-Stiftung: Magazin Mitbestimmung Ausgabe 06/2010 URL: http://www.boeckler.de/20835.htm)
- Bei Volkentscheidungen und Volksabstimmungen ^auf kommunaler Ebene^ entspricht die Sozialselektivität der von Kommunalwahlen. (Kemper, Andreas (2010): Hamburger Volksentscheid: Wahlbeteiligung spiegelt Armutsverteilung, in: Dishwasher. Magazin für studierende Arbeiterkinder vom 18.07.2010, URL: http://dishwasher.blogsport.de/2010/07/18/hamburger-volksentscheid-wahlbeteiligung-spiegelt-armutsverteilung/) Die Schweiz zeigt, dass ^auf Bundesebene^ die meisten Volksabstimmungen deutlich ^unter^ 50% Beteiligung liegen, d.h. noch ^unter^ den Kommunalwahlbeteiligungen. Es ist also davon auszugehen, dass durch Volksabstimmungen ^auf Bundesebene^ das Prinzip der demokratischen Gleichheit gefährdet wird.
Es ist also kein Wunder, dass Initiativen wie die Alternative für Deutschland ^auf^ Direkte Demokratie setzt. Schließlich überlegen einige ihrer Repräsentanten bereits seit Jahren, z.T. seit Jahrzehnten, wie sich demokratische Entscheidungsstrukturen so gestalten lassen, dass die wenigen Reichen keine Angst vor den vielen Armen haben müssen.
Problematisch ist aber nicht nur, dass immer weniger Arme zu den Wahlen gehen. Mindestens genauso problematisch ist der ^Abbau^ der Demokratie in der Wirtschaft. Zum einen ^sinkt^ kontinuierlich der gewerkschaftliche Organisationsgrad. Zum anderen ^unterläuft^ die ^Niedriglohnpolitik^ das Recht auf Betriebsratsgründungen. In diesen Bereichen besteht ein sehr großer Bedarf nach “Mehr Demokratie”. Eine Volksabstimmung ^auf Bundesebene^ hingegen wird voraussichtlich zu “Mehr sozialselektive Demokratie” führen. Prinzipiell sind Volksabstimmungen sicherlich zu begrüßen. Wenn sie allerdings eine sozial schräge Partizipation zur ^Basis^ haben, sollte zunächst darauf verzichtet werden.
Nachtrag 29.07.2013: In einem Interview mit der Preußischen Allgemeinen Zeitung bekräftigt Beatrix von Storch meine These, dass die Reform der politischen Entscheidungsstruktur ein zentrales Ziel der Zivilen Koalition ist. Momentan sieht diese Reform die Direkte Demokratie vor – meines Erachtens ein gefährlicher Zwischenschritt.
Martin Lauber
Wer nicht will, der hat schon. Wurden demokratische Wahlen in den sozialistischen Staaten auch deshalb abgeschafft, weil bestimmt nur die Reaktionäre gewählt hätten? Wäre ja nach Ihrer Logik auch die sinnvolle Konsequenz. Weg mit der Demokratie, denn nur die Falschen gehen wählen!
Jaja, das war schon immer der Haken an kommunistischen Revolutionswünschen der Nachkriegszeit in Deutschland: leider ging es allen zu gut dafür. Und geht es noch. Leider.