Bewusst gedachte Vertikalismen

Zur klassenbezogenen Problematik der Sprachkorrekturen

Die beherrschten Klassen wissen sehr viel besser als Menschen aus der sogenannten Mittelschicht, dass Sprache politisch ist. In der Mittelschicht wird Sprache essentialisiert, unhinterfragt, in der Arbeiter*innenklasse besteht ein deutliches Bewusstsein dafür, dass Sprache gegen sie verwendet wird, immer wieder, von der Grundschule, wo über Sprache selektiert wird, bis hin zur juristisch-bürokratischen Sprache in Briefen. Die Gewalt der Sprache und damit die Politikhaftigkeit der Sprache ist gerade in der Arbeiter*innenklasse bewusst, vor allem auch dann, wenn Menschen nicht mit der deutschen Sprache aufgewachsen sind.

Wichtig ist hierbei auch das in der Arbeiter*innenklasse größere Bewusstsein dafür, Wirkmächtigkeit nicht mit Sprache zu verwechseln. Sprache ist Wirklichkeit, aber Sprache ist nicht die Wirklichkeit. Sprache stillt keinen Hunger. Sprache heilt keine Traumatisierungen. Sexismus, Rassismus, Klassismus … sind nicht wesentlich sprachliche Probleme.

Wenn es darum geht, geschlechtersensibel und antirassistisch Sprache zu gestalten, dann ist dies sehr wichtig und zu begrüßen. Ein Problem besteht jedoch darin, dass diese Vorschläge zu einer nicht-diskriminerenden, nicht-ausschließende, nicht-biologisierende Sprache oftmals in einem akademischen Milieu entwickelt und verbreitet werden. Es gibt wahrscheinlich nicht wenige Menschen in der beherrschten Klasse, die noch nie etwas vom Binnen-I gehört haben. Das heißt, die Frage der Vermittlung stellt sich hier. Da Texte immer häufiger im Internet gelesen werden, wäre es fair, wenn Binnen-Is, Binnen-Unterstriche oder Binnen-Sternchen direkt verlinkt werden auf Seiten, die diese sprachlichen Varianten erklären. Das selbe kann mit dem N-Wort stattfinden. Aber nicht nur in Fragen der Verbreitung, sondern auch im Bewusstsein dessen, dass korrigierendes Verhalten der akademischen Mittelschicht gegenüber der Arbeiter*innenklasse ein Herrschaftselement ist und gerade auch über Sprachkorrekturen läuft, stellt sich die Frage der Vermittlung. Einerseits ist also gerade die Arbeiter*innenklasse offen für Fragen der Sprachpolitik, da hier Sprache als Herrschaftspolitik verstanden wird, andererseits können Sprachkorrekturen auch dann, wenn sie berechtigt sind, als Teil der üblichen abwertenden Sprachkorrekturen verstanden werden. Zumal dann, wenn eine mangelnde politische Sprachsensibilität „Prolls“ (=Proleten=Arbeiter*innenklasse) zugeschrieben wird.

Beim Bestreben einer nicht-diskriminiernden Sprachverwendung gibt es, so ist mein Eindruck, einen Klassen-Bias, eine Schräglage. Während heute niemand mehr vom „schwachen Geschlecht“ spricht, ist die Zuschreibung „sozial Schwache“ noch immer üblich. Und niemand stellt bislang das vertikalistische Denkmuster in Frage, welches Oben mit herrschende Klasse und Unten mit beherrschter Klasse gleichsetzt. Eine klassengerechte Sprache müsste komplett auf Vertikalismen verzichten, da in den europäischen Kulturen Oben als das Gute und Unten als das Schlechte eingeschrieben ist. Vertikalismen verhindern die gleiche Augenhöhe. Sie verschleiern, dass sich dialektische Widersprüche auf einer Ebene befinden. Real stehen sich Arbeiter*innenklasse und Kapitalist*innenklasse auf einer Ebene gegenüber, die Arbeiter*innen befinden sich nicht „unter“ den Kapitalist*innen. Der Marxismus ist vermutlich die einzige Gesellschaftstheorie, der auf vertikalistische Abbildungen der Sozialstruktur verzichtet.

Oben-Unten umbiegen

Wie können wir mit dem Vertikalismus-Problem umgehen? Ich finde es – wie oben gesagt – nicht problematisch, mit Sprache zu experimentieren, sprachliche Veränderungen vorzuschlagen. Sprache ist Politik. Es gibt ein Vermittlungsproblem, aber diese Problem wird nicht dadurch gelöst, dass auf Sprachveränderung verzichtet wird. Mein folgender Vorschlag zum Umgang mit Vertikalismen ist daher als Denkanregung zu verstehen.

Denkmuster sind Phänomene, die unbewusst ablaufen. Mit dem Binnen-I soll verhindert werden, dass, wenn von „Lehrern“ die Rede ist, automatisch männliche Lehrer gedacht werden, Menschen unmittelbar als Männer gedacht werden. Mit einer Markierung werden also unbewusste Denkmuster unterbrochen. Ähnliches könnte mit Vertikalismen, also mit Oben-Unten-Begriffe wie „Bildungsabstieg“, „Aufwertung“, „niedermachen“, „Hochschule“, „Unterschicht“, … geschehen. Der Begriff „Unterschicht“ kann bspw. mit Zirkumflexe („Dach“-Zeichen; lat. circumflexus=“umgebogen“) markiert werden: ^Unterschicht^. Oder auch ^Mittelschicht^, ^abgewertet^, ^super^, ^hochbegabt^, ^Niedriglohnpolitik^, ^niveaulos^. Zirkumflexe können als Pfeile oder Dächer gelesen werden. Im Internet können Zirkumflexe mit Links versehen werden, die erklären, warum dieser Begriff mit den Dach-Zeichen „bedacht“ wurde. Es geht darum, dass Vertiaklismen nicht unbewusst gelesen werden und so Denkmuster bedienen, sondern dass sie bewusst „gedacht“ werden. Das „Oben-Unten“ kann mit dem Zirkumflex in die Horizontale umgebogen werden.

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