Ich habe gerade das neue Buch von Thilo Sarrazin “Der neue Tugendterror” durchgearbeitet. Es war schmerzlich.
Da ist zum Beispiel die Passage zu Niccolo Machiavelli. Sarrazin lobt den “Klartext” Machiavellis:
“Seine Analyse ist in knapper, klarer Sprache gehalten. Er untermauert sie mit vielen Beispielen aus der damaligen Zeitgeschichte Italiens und aus der römischen und griechischen Antike. Durch die Knappheit seiner Sprache und die Klarheit seiner Schlüsse, ferner durch den weitgehenden Verzicht auf moralische Bewertung, wirkt das Buch heute erschreckend, zynisch ist es jedoch nicht. […] Schon vor 500 Jahren war die öffentliche Meinung wankelmütig, launenhaft und änderte sich schnell. Deshalb warnt Machiavelli, es sei unmöglich, nur mit Güte zu herrschen. […] Deshalb kann Herrschaft nicht allein auf der Liebe des Volkes, heute würde man sagen auf Popularität, aufgebaut werden, vielmehr braucht sie Autorität, Machiavelli nennt es Furcht.” (Sarrazin 2014, S. 118ff.)
Das Unterkapitel liest sich, als beschreibe Sarrazin sich selber. Heute (22.2.) schreibt die BILD zu Sarrazin:
“DER NEUE SARRAZIN. Klartext über Homo-Ehe und Zuwanderer. Jede Wahrheit braucht einen, der sie ausspricht! Ex-Senator und Bestsellerautor Thilo Sarrazin (“Deutschland schafft sich ab”) nimmt sich in seinem Buch “Der neue Tugendterror” die Lebenslügen linker Gleichheitsideologen vor. Nennt 14 Irrtuümer der selbst ernannten Tugendwächter und sagt, was wirklich Sache ist. BILD druckt exklusive Auszüge. Heute Teil 2: Die Wahrheit über Homo-Ehe und Zuwanderer.” (BILD 22.2.2014, S. 7)
Es ist offensichtlich, dass Sarrazin sich als ein neuer Machiavelli beschreibt und zwar als der Machiavelli des berüchtigten Büchleins “Il Principe”.
Ich hatte in meinem Blog schon mehrfach darauf aufmerksam gemacht, dass “Il Principe” nicht als Gesellschafts-, Staats- oder Machtanalyse geschrieben wurde. Die Schrift ist vielmehr als Trauma-Aufarbeitung zu interpretieren. Machiavelli schrieb “Il Principe” in einem halben Jahr mit verkrüppelten Händen nieder, unmittelbar nachdem er aus dem Kerker entlassen und in die Verbannung geschickt worden war. In dem Verlies teilte er sich die Kerkerzelle mit Ratten “groß wie Hunde”. Niccolo Machiavelli wurde mehrmals mit der Streckfolter “Strappado” gefoltert. Dem Wahnsinn nahe flehte in verzweifelten Briefen mehrfach um Gnade. Während seiner Kerkerhaft musste er mit einer qualvollen Hinrichtung rechnen, viele seiner Bekannten wurden aufs Schaffott geführt. Jean Amery schreibt zur Folter:
„Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in dieser Welt. Die Schmach der Vernichtung läßt sich nicht austilgen. Das zum Teil schon mit dem ersten Schlag, in vollem Umfang aber schließlich in der Tortur eingestürzte Weltvertrauen wird nicht wiedergewonnen. Daß der Mitmensch als Gegenmensch erfahren wurde, bleibt als gestauter Schrecken im Gefolterten liegen: Darüber blickt keiner hinaus in eine Welt, in der das Prinzip Hoffnung herrscht.“
Als Machiavelli überraschend aus dem Kerker entlassen wurde, war er schwerst traumatisiert. Machiavelli, der überzeugte Repbulikaner, widmete sein Buch einem Fürsten, den Medici, der für seine Folterung verantwortlich war. In dem Buch rechtfertigt er seine eigene Folter. Seit Ferenczi spricht man von “Introjektion des Aggressors” oder auch “Identifikation mit dem Aggressor”. Machiavelli ist also alles andere als ein “klarer” Mensch. Wenn man “Il Principe” liest, muss man sich vergegenwärtigen, dass der Autor das Buch nicht nur mit “verkrüppelten Händen” geschrieben hat, sondern in einem Zustand eines akuten, unaufgearbeitetem Folter-Traumas. Es ist ein Werk jenseits der Welt, in der das Prinzip Hoffnung herrscht. Deshalb “entdeckten” linke, marxistische Denker wie Gramsci, Althusser und Negri den Renaissance-Philosophie, als sie inhaftiert waren. Und dieser Machiavellismus macht zugleich auch die “böse Seite” Gramscis aus.
Aber in welchem Kerker befindet sich Sarrazin, wenn er die “Klarheit” Machiavellis lobt? Sarrazin erzählt in seinem Buch davon, dass er “Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre” viel Freud las. Er schreibt: “Das entsprach damals dem Zeitgeist, zumal es ja von Sigmund Freud zu Erich Fromm oder Wilhelm Reich nicht weit war.” (Sarrazin 2014: 125) An der Stelle kippte meine Wut auf Sarrazin in Mitleid. Sarrazin hat es anscheinend nicht geschafft, Fromm oder Reich zu lesen. Sarrazin wuchs in der westfälischen Provinz-Stadt Recklinghausen auf, besuchte ein altsprachliches Gymnasium, dann Bundeswehr, schließlich Volkswirtschaftslehre in Bonn – kein Milieu, in dem Erich Fromm oder Wilhelm Reich gelesen wurde. Sarrazin blieb bei den Schriften von Freud hängen und “verwarf” selbst diesen später, er verpasste es, sich mit autoritären Charaktern zu befassen. In seinem Buch “Der neue Tugendterror” ist daher als einzige psychologische Annäherung an das Phänomen Verdränung nur die Schrift “Totem und Tabu” erwähnt. Freud projiziert die Tabuisierung in sogenannte priminitve Gesellschaften. Hier ist nicht der Platz, Freuds eigene Tabuisierung der Verführungstheorie zu diskutieren. Wenn aber von Tabuisierung gesprochen wird, dann muss über den Zusammenhang von Gewalt, Introjetkion und Tabu diskutiert werden. Und dann muss über die bürgerliche Disziplinargesellschaft der Jahrhundertwende und ihre Sexualmoral gesprochen werden. Hier empfehle ich Sarrazin ausdrücklich die Lektüre von Fromm und Reich, aber auch Foucaults “Überwachen und Strafen” und “Sexualität und Wahrheit Bd. 1”, also ich empfehle die Literatur der Intellektuellen, die Breivik als “Kulturmarxisten”, als Urheber der “Political Correctness” ausmachte, und deren Auslöschung er mit seinen Morden in Norwegen beginnen wollte. Breivik gab sich übrigens als Anhänger Machiavellis zu erkennen und wie Sarrazin beruft er sich auf den antifaschistischen Sozialisten George Orwell. Kannte Sarrazin das “Manifest 2083” nicht?
Noch einmal zurück zu Machiavelli. Friedrich der Große schrieb unter dem Einfluss des französichen Aufklärers Voltaire den “Anti-Machiavell”. Von einer anti-machiavellistischen Regierung blieb in seinen späteren Herrschaftsjahren nicht viel übrig. Wie sein Vater, “Soldatenkönig” Friedrich Wilhelm I., trieb er die Disziplinierung der Armee und die soldatisch-preußischen Tugenden voran – Tugenden, die wie Machiavellis “Virtù” auf Staatserhalt setzten und nicht auf Emanzipation. So marschierten schließlich Jahre später die preußischen und österreichischen Armeen gegen die Französische Revolution und drohten mit der Einäscherung von Paris, wenn sich das französiche Volk nicht sofort wieder ihren Souverän unterwerfen würden. Die preußisch-österreichische Sekundärtugendmarsch gegen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit war insofern erfolgreich, als er den jakobinischen Machiavellismus zum Sieg verhalf. Der sogenannte “Tugendterror” (ein dezidiert antisemitischer Begriff) wurde vom Sekundärtugendterror der preußischen Armee provoziert.
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Und hier ein Facebook-Seite zum Sarrazin-Buch: Sekundärtugendterror
Werner Hupperich
Mitleid halte im Fall Saraazins nicht für angezeigt. Wenn ich die Person Sarrazins in zwei Sätzen charakterisieren müsste, so würde ich ihn eher als tragikomische Figur beschreiben, deren einzig sympathische Eigenschaft in dem Talent besteht, sich selbst um Kopf und Kragen zu reden – sofern man ihr nur eine Bühne bietet. Der selektive Griff in die Abstracts wissenschaftlicher Literatur – bereits die ebenso kruden wie willkürlichen Interprationen in “Deutschland schafft sich ab” lassen vermuten, dass er nicht eine einzige Publikation im Volltext gelesen, geschweige denn verstanden hat – hat dabei in der Tat schon etwas Bedauernswürdiges.
Dass er sich beim verzweifelten Griff nach zum Bau seiner braunen Eselsbrücken tauglich erscheinender Strohhalme regelmäßig selbst blamiert, scheint er selbst dabei nicht einmal zu bemerken. Möglicherweise ist ihm auch vollkommen gleichgültig, ob seine gedanklichen Konstrukte wissenschaftlich tragfähig sind oder nicht. Sein pseudowissenschaftliches Geschwurbel dient schließlich nur dazu, seine ohnehin vorgefasste Zielgruppe (die, die immer schon geahnt [!] haben, dass genetisch minderwertige Figuren die “Herrenrasse” in den Untergang treiben..) knapp oberhalb des Kommunikationsniveaus von Grunzlauten zu beeindrucken. Wovon er selbst jedoch offenbar ziemlich überrumpelt wurde, ist die tatsächliche Größe besagter Zielgruppe. Erstaunlich an Sarrazin ist daher aus meiner Sicht weniger dessen Geschreibsel als denn die doch erschreckend hohe Zahl derer, die darauf hereinfallen. Das ist m.E. die wirklich tragische Komponente an diesem leidigen Schauspiel.
Beste Grüße,
Werner Hupperich