Der Sinn des Lebens

Da haderte ich gerade mit mir, ob ich einen Blog-Beitrag schreiben soll zu einem nicht-aktuellen Themen, wo doch gerade die NATO-Konferenz in Straßburg, der G20-Gipfel in London stattfindet, Weltwirtschaftskriste und Klima”katastrophe” sowieso, kann man denn da über “den Sinn des Lebens” schreiben oder gerade deshalb? … und bekomme dann von Bertelsmann – auf die immer Verlaß ist – den Ball zugespielt: “Die Mehrheit der Deutschen glaubt an ein Leben nach dem Tod”. Na, was sollen sie machen, wenn es doch vorher keins gibt, würde ich flapsig antworten, hätte ich nicht eh schon einen im Kopf ausgearbeiteten Beitrag parat zum Thema “Glauben”, Bertelsmann und Essentialisierungen.

Gestern lag ich lange im Bett, verpennte den schönen Frühlingstag unter meiner Bettdecke, lauschte den leisen Geräuschen im Haus, mein Atmen, meinem Herzschlag, der fernen Polizeisirene, dem Vogelgezwitscher. Ich war sehr ruhig und genoss die warmen Vorzüge ein Materialist zu sein. Ich machte mir auf einer tiefen Ebene bewusst, was ich eigentlich bin. Ich bin Natur, meine Grenze endet nicht an meiner Haut, zu mir gehört die Luft, ich atme ein, ich atme aus, die Wärme, die für den Austausch meiner Atome sorgt, auf atomarer Ebene bin ich grenzenlos und das ist real. Oder um es mit Karl Marx auszudrücken:

Die Natur ist der unorganische Leib des Menschen, nämlich die Natur, soweit sie nicht selbst menschlicher Körper ist. Der Mensch lebt von der Natur, heißt: Die Natur ist sein Leib, mit dem er in beständigem Prozess bleiben muss, um nicht zu sterben.
Dass das physische und geistige Leben des Menschen mit der Natur zusammenhängt, hat keinen anderen Sinn, als dass die Natur mit sich selbst zusammenhängt, denn der Mensch ist ein Teil der Natur. K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEW 40, 516.

Ich machte mir klar, dass ich ein integraler Bestandteil der Natur bin, ein sehr wichtiger Teil der Natur, der Teil nämlich, wo sich Natur selbst reflektiert. Folgendes Gedankenexperiment macht dies klar:
Angenommen, die Natur käme auf den Gedanken, sich selbst zu betrachten, um zu sehen, was da eigentlich mit ihr so abgeht, was das alles so keucht und fleucht. Nun, sie würde ein Wesen erschaffen, welches sehen (hören, fühlen, schmecken, tasten…) kann. Damit würde sich jedoch nur ein Ausschnitt zeigen und es würde verzerrte Ergebnisse liefern (womöglich, dass die Erde eine Scheibe sei und dass hinter dem Gestirn Gott mit seinen Engeln throne, und hin und wieder den Zeigefinger böse schwinge). Also bekommt das Wesen ein paar Hände und ein fettes Reflektionsorgan verpasst, mit dem es nicht nur Mikroskope und Radioteleskope basteln kann, sondern auch fundierte Theorien über noch-nicht sichtbare Elemente des Universums. Und das sind wir dann: wir sind Natur, sich selbst-reflektierende Natur. Menschen und die menschliche Gesellschaft sind das Auge der Natur. Und wenn sich irgendein Sinn irgendwoher ableiten lässt, dann dieser: unsere Aufgabe ist es, wahrzunehmen, wobei Wahrnehmung die mittelbare Wahrnehmung als Reflexion der unmittelbaren Wahrnehmung miteinschließt. Das ist unsere Aufgabe. Ist das nicht toll? Unsere Identität ist es, Natur zu sein, die sich selber betrachtet. Jede andere Identitätszuschreibung ist eine Entwürdigung von uns Menschen. Ich bin kein Deutscher, ich bin kein Mann, und ich habe keine Arbeit zu leisten als Deutscher, als Mann.

Wenn von der Bertelsmann-Stiftung (die heute mit ihrem Religions-Monitoring stolz verkündete, dass 66% der Deutschen an einem Leben nach dem Tod glauben) eine nationalistische Kampagne gestartet wird wie “Du bist Deutschland!” (2005/2006) oder daran anschließend die familialistische Kampagne “Du bist Deutschland – eine Kampagne für mehr Kinderfreundlichkeit” (2007/2008), so haben wir es hier mit einer nicht zu unterschätzende Beeinflussung zu tun. Zitat aus Wikipedia: “Laut einer Schätzung im Vorfeld der Kampagne sollten 1,6 Milliarden mediale Kontakte mit den Bürgern erzielt werden. Dies entspricht einer rechnerischen Reichweite von 98 Prozent. Jeder Deutsche sollte somit durchschnittlich 16-mal erreicht werden.” Die Bertelsmann-Stiftung sprach von einem vollen Erfolg, die dumpf geschwungenen Deutschland-Fahnen während der WM und EM deuten darauf hin, dass die Kampagne tatsächlich außerordentlich erfolgreich gewesen ist. Wir müssen uns vor Augen halten, dass der Bertelsmann-Konzern jährlich 100 Millionen Euro in seine Stiftungen pumpt (Ende 2008 aufgrund der Wirtschaftskrise nur 70 Millionen Euro). Zum Vergleich: Wikipedia konnte Ende 2008 weltweit 6 Millionen Dollar aufbringen, um die Online-Enzyklopädie aufrecht zu erhalten und auszubauen, also allein der Bertelsmann-Konzern gibt jährlich 20 mal mehr Geld aus für die Interpretation der Gesellschaft als Wikipedia weltweit. Und natürlich werden die Bertelsmann-Stiftungen bei ihrer Arbeit durch die nicht zu unterschätzende Infrastruktur des Medien-, Bildungs- und Dienstleistungs-Giganten unterstützt. Vom Einfluss der Kirchen, die ebenfalls für den Familialismus arbeiten, will ich hier erst gar nicht reden.

Ich bin nicht Deutschland und es ist weit unter der Würde eines jeden Menschen, auf eine nationale oder ethnische oder geschlechtliche oder klassenspezifische oder was weiß ich für eine Identität reduziert zu werden. Jeder Mensch ist nicht nur ein Universum für sich, sondern ein Teil des Universums und nur diesem verpflichtet, also niemanden. Wenn es so etwas wie Pflicht gibt, so hängt diese nicht nur etymologisch mit dem Begriff “Pflege” zusammen, sondern ist mit dieser identisch. Wir Menschen sind allenfalls dazu verpflichtet, uns gegenseitig zu unterstützen, was heißt, dass wir die Menschen untersützen, die diese Unterstützung als Hilfe zur Selbsthilfe benötigen. Aber ausgerechnet die Pflegeberufe gehören zu den am schlechtesten bezahlten. Menschen, die in Kitas arbeiten oder für Altenpflege zuständig sind, werden für diese Arbeit geradezu demütigend schlecht bezahlt. Wenn ich mich also zurücklehne und sage “Ihr könnt mich mal: ich habe keine Identität, die mich zu irgendwas verpflichtet, dann schränke ich ein: natürlich gehört es zu meiner Würde, Menschen zu unterstützen, die meiner Unterstützung bedürfen.” Aber nicht aufgrund zugeschriebener Identitäten “Vaterrolle”, “Mutterrolle”, “Objekt des aktivierenden Sozialstaates”. Ich habe mich mit Mitte 20 sterilisieren lassen, weil es verdammt noch mal genug Kinder von alleinerziehenden Menschen gibt, die sich freuen, wenn sich jemand einmal die Woche um die Kinder kümmert, damit sie etwas Abstand gewinnen können. Man muss keine eigenen Kinder in die Welt setzen – es gibt eh viel zu viele, um die sich viel zu wenig gekümmert wird.
Ich hoffe, dass die Kampagnen für ein neues “Nationalgefühl” und Familialismus – die Bundesregierung spricht gerne vom “neuen Paradigma der Nachhaltigen Familienpolitik” – und der damit einhergehenden und zentralen Lüge, dass Akademikerinnen unterdurchschnittlich viele Kinder bekommen (“Akademikerinnen-Kinderlosigkeit”), nur einen vorübergehenden Erfolg haben. Ich hoffe, dass durch die Finanz- und Wirtschaftskrise klar wird:
1. ein Nationalgefühl ist nur für den kleinen Mann und die kleine Frau gedacht. Wer viel Geld hat, bringt es vor dem deutschen Fiskus auf liechtensteiner Banken illegal in Sicherheit und hat mit keinen Sanktionen zu rechnen, die weh tun (wenn man überhaupt erwischt wird).
2. wieviel Geld jemand bekommt, hat nichts mit Leistung zu tun und schon gar nicht mit Verantwortung, sondern mit Macht, Herrschaft und Ausbeutungsverhältnissen
3. es wird viel zu viel gearbeitet. Es ist nicht genug Arbeit für alle da. Zum Jahresende wird offiziell mit über fünf Millionen “Arbeitslosen” gerechnet. Die Dunkelsziffer ist wesentlich höher.
4. dort wo Arbeit nötig ist: bei Kindern, der Bildung, Kranken und Alten, wird diese bewusst niedrig bezahlt. Das ist Absicht und gehört zum kapitalistischen System. Der Sachverständigenrat, die “fünf Wirtschaftsweisen”, äußerten sich 2003 ganz unverblümt: die soziale Ungleichheit in Deutschland müsse größer werden, vor allem im Berich Krankheit und Alter müsse das Lebensriskio privatisiert werden. Ihr 20-Punkte-Programm wurde weitgehend umgesetzt.
5. es ist auch genug Vermögen da, genügend Ressourcen, dass es allen materiell richtig gut gehen kann. Aber das Vermögen ist ungleich verteilt. Nimmt man nur das Privatvermögen ohne Betriebsvermögen, hat die ärmere Hälfte der Bevölkerung einen Anteil von 1,6% am Gesamtvermögen in Deutschland. Die reichere Hälfte hat 98,4%. Tendenz der Schere: sie geht weiter auseinander, in Deutschland schneller als anderswoe. Berechnet man die Schulden mit, dann besitzt die ärmere Hälfte in Deutschland im Durchschnitt nichts, da deren Schulden ebensohoch sind, wie ihr Vermögen.

Also erzählt mir nichts von Gott oder Religion oder von durch dadurch gestiftete Identitäten. Ich wüßte nicht, wozu sie gut sein sollen. Die sogenannten letzten Fragen kann man auch ohne Monotheismus und Esoterik beantworten, nämlich radikal demokratisch. Da die Seele sich nicht an Naturgesetze hält und Zeit und Raum für sie unerheblich ist, gibt es selbstverständlich ein Leben nach dem Tod. Ich werde wiedergeboren als Sklave in Rom, als Leibeigener in Russland, als Lehrerin in den Südstaaten, als Autohändler in Nigeria. Es gibt nur eine Seele, die zeitungebunden in die Menschen hinein- und wieder hinausspringt. Ich bin du und du bist ich. Jeder Mensch durchlebt immer und immer wieder das Leben aller Menschen oder aller vernunftbegabten Kreaturen des Universums. Ein bedauerlicher Gedanke für UngleichheitsbefürworterInnen, ein tröstlicher Gedanke für SozialistInnen, für die die Geschichte der Menschheit überhaupt erst nach der kurzen Phase der Herrschaft von Menschen über Menschen beginnt.

5 Kommentare

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  1. “Angenommen, die Natur käme auf den Gedanken, sich selbst zu betrachten, um zu sehen, was da eigentlich mit ihr so abgeht, was das alles so keucht und fleucht. Nun, sie würde ein Wesen erschaffen, welches sehen (hören, fühlen, schmecken, tasten…) kann. Damit würde sich jedoch nur ein Ausschnitt zeigen und es würde verzerrte Ergebnisse liefern (womöglich, dass die Erde eine Scheibe sei und dass hinter dem Gestirn Gott mit seinen Engeln throne, und hin und wieder den Zeigefinger böse schwinge). Also bekommt das Wesen ein paar Hände und ein fettes Reflektionsorgan verpasst, mit dem es nicht nur Mikroskope und Radioteleskope basteln kann, sondern auch fundierte Theorien über noch-nicht sichtbare Elemente des Universums. Und das sind wir dann: wir sind Natur, sich selbst-reflektierende Natur.”

    Kleiner sachlicher Fehler: Ohne das “fette Refektionsorgan” isses nix mippm lieben Gott und Halleluja jauchzenden Engelein. So beschaemend es auch sein mag, aber das, was wir “Vernunft” zu nennen pflegen, ist leider unabdingbare Voraussetzung dafuer, auch unvernuenftig sein zu koennen.

    Kurz: ohne Ratio kein Irrationalismus.

  2. @Kurt “Kurz: ohne Ratio kein Irrationalismus.”
    Da hast du wohl Recht. Und Unvernunft ist ja auch was nettes – als Spielerei und Jux oder meinetwegen auch als Hobby. 😉

  3. Die Antwort gestern Nacht war etwas flapsig. Mit Ernst Bloch würde ich die Welt als eine experimentierende sehen, die in ihrer “Fehlerfreundlichkeit” auch Unsinn zulässt. Aber die Tendenz geht zum Guten.

  4. Anonym

    Die Werte der Arbeiterschicht

    Ich finde Deinen Blog sehr interessant. Zu diesem Eintrag habe ich eine Frage: Ich habe vor kurzem meine Diplomarbeit geschrieben und eine Umfrage über Werte durchgeführt. Wusstest Du das Familie, Patriotismus und Religion die typischen Werte der Arbeiterschicht sind?

  5. @ Anonym

    Welche Arbeiterschicht?

    Ich meine: wen hast Du befragt, wo, wann und wie?

    Kann die Umfrage als repraesentativ gelten?

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