Elternwahlrecht verschärft die Selektion – Gymnasien abschaffen!

In Baden-Württemberg hat die rot-grüne Regierung die verbindliche Entscheidung der Lehrkräfte für einen Übergang zum Gymnasium abgeschafft und durch eine freie Elternentscheidung ersetzt. Hierdurch wird die soziale Selektion erhöht. Die Irrationalität dieser Entscheidung liegt auf der Hand: es gibt das gegliederte Schulsystem mit dem atavistischem Gymnasium, weil Kinder angeblich unterschiedlich begabt seien und daher schon frühzeitig selektiert werden müssten. Wenn man aber diese Härte der frühen sozialen Selektion will, dann muss man gefälligst auch in den sauren Apfel beißen und möglichst objektive Testverfahren entwickeln, die diese Begabung erkennen und die Kinder entsprechend selektieren.

Wissenschaftliche Ergebnisse werden ignoriert

In einem Beitrag in der „Südwest Presse“ vom 14.02.2012 wird argumentiert:

„SPD und Grüne sind überzeugt, dass der Notendruck sinken und die Lernmotivation der Kinder steigen wird. Ein weiteres Argument liefert die Iglu-Studie, mit der die Qualität deutscher Grundschulen regelmäßig getestet wird. Die Wissenschaftler prüften und bewerteten die Schülerleistungen, ohne den familiären Hintergrund zu kennen. Das Ergebnis: Ein Kind aus der Unterschicht musste für die gleiche Note oft eine bessere Leistung liefern als ein Schüler aus einer Akademikerfamilie. Mehr noch: Auch wenn die Noten für das Gymnasium gereicht hätten, wurde den Eltern die Realschule nahegelegt.“

Hier stellt sich die Frage, ob die Studie mit böser Absicht verfälscht wieder gegeben wurde. Zwar ist alles richtig, was dort steht, natürlich benachteiligen Lehrer_innen Arbeiterkinder bei gleicher Kompetenz. Aber in der selben Studie wurden in der selben Tabelle auch die Elternentscheide überprüft und hier ist deutlich zu lesen, dass die Elternentscheide noch sehr viel selektiver sind. Während Eltern aus den sogenannten „unteren Schichten“ ähnlich wie Lehrer_innen entscheiden, schicken Eltern aus den sogenannten hohen Dienstklassen ihre Kinder quasi immer auf das Gymnasium. Es ist so gut wie unmöglich, sich in der IGLU-Studie nur über die Empfehlungen der Lehrkräfte informiert zu haben ohne die Elternentscheide zur Kenntnis genommen zu haben. Hier liegt an einer Stelle bewusste Täuschung vor.

OECD empfiehlt Einschränkung des Elternwahlrechts

Die OECD empfiehlt daher in ihrem neuen Bericht Equity and Quality in Education. Supporting Disadvantaged Students and Schools die Einschränkung des Elternwahlrechts und die Abschaffung des frühen sozialen Selektion in der Sekundarstufe I, erst ab dem 10. Schuljahr sollten die Kinder auf unterschiedliche Schulformen gehen. Dies wäre die Abschaffung des Gymnasiums, ein längst überfälliger Schritt, der vom Deutschen Philologenverband und gutverdienenden Eltern, die ihren Kindern Vorteile sichern wollen, massiv bekämpft wird. Diese Studie antizipiert allerdings inzwischen den Widerstand, den die Privilegierten gegen jede sozial gerechte Reform des Schulsystem leisten, und legt nah:

„Dort, wo Widerstände gegen eine Aufschiebung des Zeitpunkts der Selektion bestehen, empfiehlt es sich, die untersten Schulzweige abzuschaffen, um die negativen Effekte dieser Praxis zu verringern.“

Die Diskriminierung von Kindern aus den beherrschten Klassen (Pierre Bourdieu) ist in Deutschland derart unantastbar, dass selbst die OECD davon ausgeht, dass in diesem Land internationale Standards nicht eingeführt werden können.

Berliner „Dekadenz“

Von Guido Westerwelle gab es vor einiger Zeit die Bezeichnung „Dekadenz“ für ein Schulsystem, welches den Elternwillen abschaffe oder per Losverfahren die Kinder auf Gymnasien verteilt. Der Begriff „Dekadenz“ gehört hier auch hin. Und zwar um eine Schulphilosophie zu kennzeichnen, die die Alliierte Kontrollkommission seinerzeit gerne abgeschafft hätte, die aber beispielsweise auf der Grundlage einer „Begabungsstudie“ des Rassenhygienikers Karl Valentin Müller beibehalten wurde. „Dekadenz“ ist ein anderer Begriff für „Dysgenik“ und meint wohl die Tendenz, dass die Dummheit immer mehr zunimmt, weil die Selektion nicht mehr in dem Sinne funktioniert, dass die „Leistungsträger“ schwinden. Neben Sarrzain, der die Ursprünge des selektiven Begabungssystems wieder mit Begriffen wie „Dysgenik“ und Bildungsunfähigkeit vor Augen führt, naturalisiert nun auch Dieter E. Zimmer in seinem Buch „Ist Intelligenz erblich? Eine Klarstellung“ die künstlich geschaffenen Unterschiede und wettert gegen Gleichhheitsvorstellungen.

Intelligenz-Vererbungsthesen und Elternwahlrecht gehören zusammen

Was auf den ersten Blick wie ein Widerspruch aussieht, Bestseller, die davor warnen, dass Dumme nicht mehr ausselektiert werden und die Abschaffung von objektiven Leistungskriterien im Übergang zum Gymnasium, gehört in Wirklichkeit zusammen. Sarrazin und Zimmer, die über den Rückgang der Intelligenz besorgt scheinen, interessiert es nicht, dass im Übergang von der Grundschule zum Gymnasium nach sozialer Herkunft, statt nach Leistung selektiert wird; dass diese Selektion nach sozialer Herkunft nur zu 41 Prozent auf Primäreffekte zurückzuführen ist, das heißt darauf, dass Kinder sogenannter „unteren Schichten“ weniger Möglichkeiten haben, die gleichen Leistungen zu erbringen wie Kinder aus „höheren Schichten“ (in diesen 41 Prozent wäre dann bestensfalls die Vererbungstheorie unterzubringen und müsste sich die Prozentpunkte teilen mit Problemen, die mit den Stichworten Elterngeld, Ghettoisierung, Marginalisierung, Lernkulturen, Bibliothekensterben, kostenpflichtige Kitas, soziales Kapital, etc. nur angerissen sind) und dass die übrigen knapp 60 Prozent Herkunftseffekte sind, die nichts mit Leistung bzw. mit den Worten Sarrazins und Zimmers mit Intelligenz zu tun haben. Wäre ihnen wichtig, dass Intelligenz sich durchsetzt, müssten sie mit Vehemenz die soziale Selektion des Schulsystem angreifen.

Tatsächlich geht es hier um einen Gefälligkeitsdienst an Eltern, die nicht möchten, dass ihre Kinder mit Schmuddelkindern auch nur zusammen fair getestet werden. Ihre Kinder sind etwas besseres, weil die Eltern etwas besseres sind. Sie verwahren sich dagegen, dass irgendwelche Pädagog_innen sich anmaßen, ihre Kinder zu beurteilen. Dennoch sind sie eifrige Vertreter_innen der Selektion. Ein Widerspruch, der nur durch die Bücher von Sarrazin und Zimmer gelöst werden kann: die Kinder müssen gar nicht nach der vierten Klasse nach Begabung getestet werden, wenn sich doch Intelligenz vererbt. Es reicht doch wohl als Nachweis, so die implizite Logik, wenn der Vater oder die Mutter gut verdient, dass dann auch das Kind intelligent ist. Und umgekehrt: wo soll denn bei einem Kind von Arbeitslosen oder Arbeiter_innen die Intelligenz herkommen?

Das Gymnasium braucht Sarrazin

Damit das Gymnasium bestehen bleibt, braucht es diese Naturalisierungen künstlich geschaffener Unterschiede durch Erbintelligenz-Paradigmen wie die von Sarrazin oder Zimmer. Wissenschaftlich haltbar sind diese Bücher nicht. Studien von „Vererbung von Intelligenz“ sind akademische Spielereien von Psycholog_innen, die mit irgendwelchen Korrelationen um sich werfen. Genetiker_innen wenden ein, dass es für eine Vererbung von Intelligenz keine Belege gibt, weil Intelligenz im naturwissenschaftlichen Sinn nicht definiert ist und daher gar nicht erforscht werden kann. Ähnlich sieht dies auch die Bildungsforschung, für die Kompentenzen, aber nicht der Begriff der Intelligenz im Fokus steht. Und wie wir oben gesehen haben, interessiert sich die Politik schon lange nicht mehr für wissenschaftliche Studien, es geht um Machtpolitik. Solange sich Arbeiterkinder im Bildungssystem nicht organisieren, bleiben die Privilegierten der entscheidende Machtfaktor.

4 Kommentare

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  1. Danny

    Angenommen Sie (als offenbar privilegierter Akademiker) hätten Kinder, würden Sie die auf eine Hauptschule schicken auch wenn Sie fürs Gymnasium geeignet wären?
    Nur um die „gesellschaftliche Selektion“ abzuschwächen, also um ihre abstrakte gesellschaftspolitische Zielvorstellung zu befördern würden Sie ihren Kindern schaden?
    Wohlgemerkt: so eine Aktion würde keinen einzigen Migranten/etc besser stellen sondern nur ihre Kinder schlechter (ausser man rechnet den Spielspass ein, den die Hauptschulkinder beim mobben von Akademikerkindern vllt empfinden). Aber zugegeben würde das durchaus die Gleichheit erhöhen, also die durchschnittliche Abweichung vom MIttelwert reduzieren, was Sie offenbar als gerecht empfinden.

    Meinen Sie nicht, dass es legitimes Recht der Eltern ist zu bestimmen wie Sie ihr Kind erziehen wollen bzw in welche Schule sie es schicken?

    ICH sehe es sogar als moralische Pflicht an seinen Kindern einen möglichst guten Start ins Leben zu ermöglichen. Entsprechend würde ich natürlich auch nie Parteien wählen die versuchen dieses Ziel zu vereiteln durch unangemessene Zwangsbeschulung (es ist schlimm genug so wie es ist..), deshalb ist die BW Entscheidung schon ganz richtig so. Sie würden das auch verstehen, wenn sie nicht ihre Gleichmach-Ideal als Zweck und Ziel der Änderung voraussetzen würden, das war naemlich sicher nicht der Anlass, auch wenn das vllt die ein oder andre Partei vorgeschoben haben mag. Positiv sehe ich die Änderung weil Sie ungerechtfertigten staatlichen Zwang (=Gewalt) reduziert.

    Also, was würden Sie tun?

  2. Andreas Kemper

    Ich würde meine Kinder auf eine „Schule für alle“ schicken. Die gibt es nicht? Na, warum gibt es denn kaum echte Gemeinschaftsschulen?

    Weil privilegierte Eltern ihre Privilegien an ihre Kinder weitergeben wollen. Deshalb fordern sie zugleich eine frühe Selektion und keine objektivierbaren Selektionskriterien. Es soll selektiert werden, aber nicht nach Leistung, sondern nach Geldbeutel.

    Das Recht der Eltern, über die „Erziehung“ „ihrer“ Kinder zu bestimmen, findet seine Grenzen dort, wo die Grenzen anderer beschnitten werden. Oder wie es in den Grundrechten heißt:

    Artikel 2
    (1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

    Die Rechte anderer werden durch die frühe Selektion ohne objektivierbare Selektionskriterien verletzt (wobei ich bezweifeln möchte, dass es „objektivierbare Selektionskriterien“ bei Zehnjährigen geben kann, daher soll die ganze Selektion in der SEK I verschwinden):

    Artikel 3
    (3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

    Diesen Grundrechten haben sich auch die Rechte von Eltern über den „Erziehungsstil“ zu beugen. Gymnasien verstoßen allein durch ihre Existenz gegen das Grundrecht, gegen Artikel 3 Absatz 3.

  3. Peter

    Herr Kemper, Sie haben keine Kinder und werden wohl auch nie welche haben. Falls dies nicht zutrifft, dann korrigieren Sie mich bitte. Ihre Anschauungen sind völlig unberührt von persönlicher Verantwortung und führen zu keinerlei persönlich zu tragenden Konsequenzen. Solch abstrakte, reichlich wirklichkeitsfremde Theorie führt selten zu echter Erkenntnis. Das lehrt uns die Standpunkttheorie.

    Da Sie, Herr Kemper, auf die Standpunkttheorie zwar immer lautstark verweisen, ihre eigene privilegierte soziale Stellung aber nie auch nur ansatzweise ehrlich reflektieren, frage ich Sie deshalb, wie sie ihre privilegierte soziale Stellung rechtfertigen. Welche Selektion hat da stattgefunden und was waren die Kriterien? Ist ihre soziale Stellung ausschliesslich Ausdruck ihrer Leistungen oder profitierten Sie erheblich von ihrem Beziehungsnetz?

    Sie geniessen offensichtlich Privilegien, Herr Kemper, die wesentlich ihrem Beziehungsnetz geschuldet sind. Es mutet daher seltsam an, dass sie Privilegierte so fundamental kritisieren, indem sie ihnen amoralisches, von Eigennutz motiviertes Verhalten vorwerfen. Wer derart moralinsauer argumentiert, der muss sich auch mal an den eigenen Massstäben messen lassen. Ihre Herkunft aus dem Arbeitermilieu, die sie oft anführen, schliesst nicht aus, dass sie jetzt, im Hier und Heute als Privilegierter und Teil des Etablishements gelten dürfen. Die Herkunft ist keine Absolution. Sie sind nicht mehr Teil der Arbeiterklasse und Sie sprechen auch nicht in ihrem Namen. Sie sind Teil des politischen Etablishements und werden über die Heinrich Böll Stiftung vom Staat finanziert. Ihre staatskritische Attitüde ist daher unangemessen, ihre Positionierung als Interessenvertreter der unteren sozialen Schichten unglaubwürdig.

    Der Verweis auf die sarrazinesischen Thesen ist polemisch und lediglich geeignet, Gegenmeinungen zu delegitimieren, sie in die Nähe rassenbiologischer Anschauungen zu rücken. Auch hier wäre es für einen Soziologen angezeigt, die eigene Motivation zu ergründen.

    Da Sie sich als Interessenvertreter des Prekariats inszenieren und Sie sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit als „wackerer Kämpfer gegen rechts“ darstellen: Ihr moralisierender „Kampf gegen Rechts“ ist im Grunde ein mehr schlecht als recht kaschierter Kampf gegen das Prekariat. Das Prekariat ist eben nicht per se politisch links, vor allem dann nicht, wenn es ihren reichlich albernen Kategorisierungen nicht genügt, d.h wenn es sich um den weissen, männlichen und heterosexuellen Teil des Prekariats handelt.

    Sich darüber Gedanken zu machen, warum sich grosse Teile des Prekariats nicht von der politischen Linken vertreten fühlt, das wäre produktiver als sich zum tausendstan Mal gegenseitig zu versichern, dass überall die Nazis lauern und dass Nazis doch Scheisse sind, als Kulisse für die reichlich selbstgerechte Selbstdarstellung, als Legitimation eigener Privilegien, als Kampf des Etablishements gegen das aufbegehrende Prekariat.

    Als Fazit: In meinen Augen sind Sie ein Pseudolinker. Der wahre Linke orientiert sich primär an den Kategorien der sozialen Klassen und nicht an sekundären Merkmalen wie „race“ und „gender“, um seine Klientel zu identifizieren. Ihre Kategorisierungen führen zwangsläufig zu einer Pervertierung linker Politik.

  4. Andreas Kemper

    Von welcher „privilegierten Stellung“ sprechen Sie? Ich habe keine Kinder, weil ich mich mit Mitte Zwanzig sterilisieren lassen habe. Diese Möglichkeit steht auch jedem anderen Mann zur Verfügung, ich bin deswegen nicht privilegiert. Ich habe trotz ursprünglicher Zuweisung zur Hauptschule einen Magister-Abschluss. So gesehen bin ich privilegiert, aber diese Privileg setze ich ein gegen Bildungsbarrieren. Finanziell bin ich nicht privilegiert, ich erhalte keine Finanzierung vom Staat, auch nicht von der HBS.

    „Der wahre Linke“ und alle anderen unwahren oder weiblichen oder transgender Linken positionieren sich sehr wohl gegen Diskriminierungen und vermeiden den Begriff „Pervertierung“.

    Was soll denn „soziale Klasse“ sein und wer behauptet, dass dies ein „primäres Merkmal“, race und gender hingegen „sekundäre Merkmale“ seien? Mit Marx lässt sich das jedenfalls nicht begründen.

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