Klassismus als gesellschaftsanalytischer Begriff
Im ersten Teil bin ich auf Klassismus als Empowerment-Begriff eingegangen. Ich habe dort vorgeschlagen, Klassismus als Ausdruck-mit-Ausrufzeichen, der also zur Benennung von klassenbezogener Diskriminierung, Gewalt, Marginalisierung dient, von Klassismus als gesellschaftsanalytischem Begriff zu trennen.
Der Begriff Klassismus geht aus von Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen und soll es ermöglichen, dass mit ihm diese Diskriminierungen benannt werden. Von diesem Standpunkt wird eine Gesellschaftsanalyse vorgenommen, in der versucht wird, Diskriminierungserfahrungen auf Herrschafts- und Machtverhältnisse zurückzuführen, die dann als klassistisch benannt werden.
Da es sich hier nur um einen Blogbeitrag handelt, werde ich die Aspekte von Klassismus als gesellschaftsanalytischen Begriff nur skizzieren.
Ich denke, dass der Klassismusbegriff zum Marxismus passt. Allerdings sollte Marx hier marxistisch gelesen werden, das heißt, es sollte berücksichtigt werden, dass Marx zu einer bestimmten Zeit geschrieben hat, in der der Kapitalismus noch nicht so weit entwickelt gewesen ist wie heute. Ich beginne diesen Artikel mit einer Anmerkung aus der Arbeit „Die Reproduktion der Arbeitskraft im globalen Kapitalismus und die unvollendete feministische Revolution“ von Silvia Federeci, die in einer Anmerkung festhält:
„Es ist kein Zufall, dass in England bis 1870 sowohl ein neues Ehegesetz (Marriage Act) als auch ein das Recht auf allgemeine Grundschulbildung formulierendes Bildungsgesetz (Education Act) verabschiedet werden.“
Diese Änderungen im Ehe- und Bildungsgesetz haben mit der Entwicklung des Kapitalismus zu tun und mit Fragen der Reproduktion der Arbeiter_innenklasse. Und diese Veränderungen begannen, als Marx die meisten Manuskripte für die drei Bände des Kapital bereits abgeschlossen hatte. Dass Marx sich nur wenig mit Reproduktionsfragen befasst hatte, und zwar sowohl mit der Frage, wie denn die häuslichen Bedingungen zur Reproduktion der Arbeitskraft aussehen, als auch mit der Frage, was zur Reproduktion der Arbeiterklasse führt, wird damit zusammenhängen, dass diese Fragen damals weniger komplex waren.
Bei Marx selber hat es auch verschiedene Phasen und Entwicklungen gegeben, bedingt durch äußere gesellschaftliche Veränderungen. Oftmals wird die Klassentheorie von Karl Marx aus seinen Schriften vor 1848 zitiert. Tatsächlich begann Marx mit einer Untersuchung der Klassenkämpfe in Frankreich erst nach der Niederlage der Revolution von 1848. Marx sprach nicht nur von den beiden Klassen Bourgeoisie und Proletariat, nicht nur von weiteren Klassen, sondern auch von der “race” der Fabrikarbeiter_innen und zwar immer dann, wenn es um herkunftsabhängige Klassenreproduktion ging.
Was gegenüber Marx im marxisitschen Sinne weiterentwickelt werden sollte, sind Fragen zur Reproduktion – sowohl der Arbeitskraft als auch der Klassen – und zur Ideologieproduktion. Klassismus bezieht sich auf Fragen der Klassenreproduktion. Klassismus ist die Klassenzurichtung durch Marginalisierung, Machtverhältnisse, Gewalt, Kulturimperialismus und Ausbeutung. Um mit Iris M. Young zu sprechen, hat auch Klassismus diese fünf “Gesichter”.
Zum Klassismus durch Machtverhältnisse und Kulturimperialismus würde ich Michel Foucault heranziehen. In “Wahnsinn und Gesellschaft” und “Überwachen und Strafen” beschreibt Foucault, wie Instituionen wirken, wie Macht eingeschrieben wird, dies ist durchaus als Ergänzung zu Marxs Sogenannte Ursprüngliche Akkumulation zu verstehen, wo er beschreibt, wie Fabrikarbeiter_innen durch Vagabundengesetze diszipliniert wurden. Es wurden nicht nur Manufakturen und Fabriken produziert, sondern mit jahrhunderte lange Gewaltausübung auch die dazu passenden Fabrikarbeiter_innen. In diesem Zusammenhang ist Edward P. Thompsons “Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse” spannend. Wenn man die klassistischen Politiker_innen-Sprüche analysiert, wird man diese in Foucaults Biomacht-Konzept einordnen können als Forderungen nach Disziplinierung und Bevölkerungsregulation. Foucault spricht im ersten Band von Sexualität und Wahrheit seitenlang über die Konstruktion von Klassenkörpern. Hier also wäre der Begriff Klassismus angebracht, auch wenn Foucault diesen Begriff nie benutzt hat. Foucault sprach von Rassismus, allerdings in einer Weise, die ebenfalls den Begriff Klassismus erlauben würde. Auch Bourdieu benutzte den Begriff Klassismus nicht, sondern sprach ebenfalls von Rassismus im Sinne von Klassismus, nämlich von “Klassenrassismus” und von “Rassismus der Intelligenz”. Dies zeigt, dass auch Bourdieu als jemand gelesen werden kann, der über Klassismus geschrieben hat. Das Machtungleichgewicht hat mit unterschiedlichem Zugriff auf Ressourcen zu tun, die mit Bourdieu als Kapitalsorten beschrieben werden könnten: ökonomischen, kulturelles, soziales Kapital.
Mit Kulturimperialismus ist nicht nur gemeint, dass die bürgerliche Kultur die Jugendkultur der Arbeiter_innenklasse aufnimmt und vermarktet, sondern auch, dass sich die bürgerliche Kultur als Kultur schlechthin versteht, bzw. als “bürgerliche Leitkultur”, an die sich die “unterbürgerlichen Schichten” aufzurichten haben. Gegen diesen Kulturimperialismus wurden bereits Proletkult-Konzepte entwickelt und gerade eben ist Paul Willis “Spaß am Widerstand” im Argument-Verlag neu aufgelegt worden. Kulturimperialismus meint darüber hinaus bürgerliche Denk- und Bewertungsschemata. Hier also wäre noch einmal Michel Foucault heranzuziehen und die Kritische Diskursanalyse. Mit Denkschemata ist gemeint, dass unsere Vorstellungen mit vorgeprägten Strukturen arbeiten. Klassistische Denkschemata wäre das Anordnen von Klassen auf einer vertikalen Achse, wobei oben gut und unten schlecht ist, und die Zuordnung von Form, Geist, Aktivität mit der herrschenden und Materie, Masse und Passivität mit der beherrschten Klasse. Genauso wenig wie Foucault als Klassentheoretiker gelesen wurde, spielen bisher klassistische Denk- und Bewertungsschemata in der Diskursanalyse eine Rolle.
Ich möchte noch kurz auf den Gesichtspunkt Gewalt eingehen. Gewalt wird einerseits der beherrschten Klasse zugeschrieben, andererseits wird ihre Verwundbarkeit übersehen. Erst seit kurzer Zeit wird die “Nachhaltigkeit” von Gewalt in Form von Traumata untersucht. Dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, gilt erst recht für das Erleben von Gewalt und Todesdrohungen. Paradigmatisch hat Hegel den Zusammenhang von Gewalt, Todesdrohung und Bewusstsein im “Herr und Knecht”-Kapitel in der Phänomenologie des Geistes beschrieben. Statt von der Klassen an sich, die zur Klasse für sich werden soll, in dem sie viel Marx liest, zu sprechen, wäre es sinnvoller, die Bedeutung von Gewalterfahrungen für das “Doppelte Bewusstsein” (Du Bois) bzw. das “Zweite Bewusstsein” (Popitz) zur Kenntnis zu nehmen. Da es sich in der Regel um kollektive Gewalterfahrungen handelt, lassen diese sich auch nur kollektiv auflösen. Also auch dieser Ganze Bereich von Gewalt mit den Zuschreibungen und intergenerationell weitergegebenen Traumata ist mit dem Begriff Klassismus beschreibbar. Gewalt ist zudem an Eigentum gekoppelt
Zum Begriff der Marginalisierung muss ich nicht viel schreiben: Gentrifizierung, Soziale Selektion im Bildungssystem, Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, Gated Cities, “Problemviertel”, Vertreibung von Obdachlosen… Das alles ist Klassismus.
Ausbeutung ist der wohl schwierigste Bereich. Denn Ausbeutung wird von vielen Marxist_innen in Opposition zum Klassismus gesetzt. Wer von Klassismus spricht, stelle Ausbeutung nicht in Frage. Beim Ausbeutungsbegriff müsste zunächst differenziert werden zwischen Ausbeutung im Produktionsprozess (Mehrwertklau) und außerhalb des Produktionsprozessses. Außerhalb der kapitalistischen Produktion gibt es vielfach klassistische Ausbeutung. Für den Produktionsprozess selber würde ich zunächst festhalten, dass Klassismus hinsichtlich der Ausbeutung geschieht, das heißt, es gibt Klassismus, damit eine Klasse eine andere ausbeuten kann. Wobei dies nicht zu direkt gedacht werden sollte. Es gibt auch Klassismus, damit sich eine Person einer anderen überlegen fühlen kann, um aufgrund dieser Privilegierung das System zu stützen, welches Ausbeutung erlaubt. Die Ausbeutungsbedingungen im Produktionsprozess tragen allerdings ihrerseits auch zur Klassenzurichtung bei. Es gibt also eine Wechselwirkung von Klassismus und Ausbeutung. Wer den Kapitalismus abschaffen möchte, sollte an beiden Hebeln ansetzen.
Wichtig ist vielleicht noch, dass sich Klassismus, Sexismus, Rassismus und die anderen -ismen überschneiden können. Es ist nicht zielführend hier irgendeine Herrschaftsform als schlimmer oder wichtiger zu betrachten.
Diesen Text habe ich in wenigen Stunden heruntergeschrieben, da er die aktuelle Klassismus-Debatte voranbringen soll. Vielleicht sind hier einige Dinge schräg formuliert oder noch nicht genügend durchdacht. Und es fehlt so einiges.