Kultur für alle

Wieder einmal hat der SPIEGEL ein klassistisches Buch durch einen Vorabdruck in die Bestseller-Listen gepusht. Vor anderthalb Jahren musste Sarrazin „Deutschland schafft sich ab“ mit seiner Kernthese, dass der Anteil der „Bildungsunfähigen“ wachse, unbedingt mit einem Vorabdruck geadelt und gepusht werden, jetzt ist es eine Provokation von sogenannten Kulturexperten, die mit ihrem Buch „Der Kulturinfarkt“ den Dämon „Kultur für alle“ konstruieren.

“4000 Bibliotheken statt 8200 – wäre das die Apokalypse?”

wird dort provokativ gefragt. Nein, es wäre nicht die Apokalypse. Es wäre eine Umverteilung, die bereits seit Jahren läuft und als „Bibliothekensterben“ bekannt ist. Neu ist lediglich, dass sich tatsächlich „Kulturexperten“ erdreisten, dieses Bibliothekensterben gut zu finden und voran treiben zu wollen. Bislang wurden immer Krokodilstränen geheult: „Wir wollen ja alle die Bibliotheken erhalten – aber die Kassen der Kommunen sind leer“. Jetzt wird einen Schritt weiter gegangen und das Bibliothekensterben begrüßt: lieber 4000 Bibliotheken mit einem hochwertigen Angebot als 8200, die nur der Ideologie der Gleichmacherei dienen. Was nützt es der deutschen Kultur, wenn jedes Dorf in MV oder jeder Stadtteil im Ruhrgebiet eine Zweigbibliothek besitzt? Diese vier „Kulturexperten“ machen mit ihrem Pamphlet vor allem eines: sie zerstören einen bislang noch gegebenen sozialen Konsens. „Kulturinfarkt“ und „Deutschland schafft sich ab“ legitimieren Menschenverachtung. Einem großen Teil der Menschen hierzulande wird der Kultur- bzw. Bildungsbedarf, ja die Kultur- und Bildungsfähigkeit abgesprochen. „Kultur für alle“ und „Bildung für alle“ werden als ideologische Spinnereien politisch korrekter Gutmenschen dämonisiert. Nachdem sich mehr und mehr zeigt, dass die Regierungen nicht bereit sind, finanzielle Mittel für Kultur und Bildung für alle ausreichend zur Verfügung zu stellen und nachdem die Aggressivität der Privilegierten in den Forderungen nach kultureller und bildungsbezogener Exklusion zugenommen hat, sind Bücher wie „Kulturinfarkt“ und „Deutschland schafft sich ab“ als argumentative Befreiungsschläge zu verstehen. Beide übrigens arbeiten mit Metaphern der Degeneration durch mangelnde Selektion, durch zuviel Gleichmacherei. Bereits die Titel ähneln sich mit ihrer Anthropomorphisierung und dem drohenden Tod.

Was erlaubt sich der SPIEGEL und was steckt dahinter?

Es wäre interessant zu wissen, welche Mechanismen dazu führen, dass der SPIEGEL solche Konvolute der Menschenverachtung vorabdruckt und damit das eigentliche Ziel dieser Bücher, nämlich ein Klima zu erzeugen, in dem ungehemmt ausgesprochen werden darf, dass man gefälligst keine Rücksicht mehr auf die „Kultur- und Bildungsunfähigen“ nehmen solle. Ist es einfach Geschäftemacherei? Der SPIEGEL pusht extrem schlechte Bücher mit rechtspopulistischen Andockstellen und hat dann ein Thema, wo er eine Zeit lang wieder Experten pro und contra auftreten lassen kann. Zu Wort kommen nicht die Leidtragenden solcher Kampagnen, die Menschen mit wenig anerkannten Ressourcen, die Kinder aus Herne oder Mecklenburg-Vorpommern aus Arbeiter_innenfamilien, denen die einzig erreichbare Bibliothek geschlossen wurde und damit der einzige Zugang zur Bücherwelt. Diese Praxis des SPIEGEL ist klassistisch.

2 Kommentare

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  1. Mike-the-Byke

    Hi Andreas Kemper

    „Zu Wort kommen nicht die Leidtragenden solcher Kampagnen [à la SPIEGEL], die Menschen mit wenig anerkannten Ressourcen, die Kinder aus Herne oder Mecklenburg-Vorpommern aus Arbeiter_innenfamilien, denen die einzig erreichbare Bibliothek geschlossen wurde und damit der einzige Zugang zur Bücherwelt. Diese Praxis des SPIEGEL ist klassistisch.“

    Ihre Kritik ist m.E. richtig. Aber zu eng: Ich kenne mehrere promovierte/habilitierte Spzoalwissenschaftler, die es sich nicht leisten können, in NRW Bücher über Fernleihe zu bestellen, da jedes Buch 3 Teuro kostet (bei Alg2 Tagessatz von etwa 11.50 Teuro).

    Sie sind erfahren genug, zu verstehen, was das Beispiel indivuell bedeutet – nur wer einer Institution angehört oder wer privat genügend Geld hat kann forschen – und was es in gesellschaftlicher Verallgemeinerung meint …

    Besten Gruß

    Mike

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